Rave On. Matthew Collin
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Doch die bedeutendste Entwicklung war die Transformation einer Vielzahl von lokalen Szenen zu einer wahrhaft globalen Kultur. Als ich Mitte der Achtzigerjahre zum ersten Mal hörte, wie ein DJ namens Graeme Park diese frühen House-, Techno- und Garage-Tracks aus Chicago, Detroit und New York in einem kleinen verschwitzten Nachtclub mit schwarzen Wänden namens The Garage in meiner Heimatstadt Nottingham auflegte, schien es doch eher unwahrscheinlich, dass ähnliche Platten zur exakt gleichen Zeit in ähnlichen Clubs auch in Moskau, Johannesburg, Dubai oder Rio auf den Plattentellern zirkulierten. 30 Jahre später gilt so etwas als normal.
Als unsere Kultur in den Jahren vor der allgegenwärtigen Internet-Präsenz begann, sich auf der ganzen Welt auszubreiten, war sie – zumindest in ihrem Anfangsstadium – vor allem ein DIY-Movement. Dies wurde von enthusiastischen Indie-Labels, unabhängigen Impresarios und Musikfanatikern vorangetrieben, die schlichtweg darauf abfuhren, obwohl abzusehen war, dass sich dieser liebevoll anarchische Zugang im Verlauf der Jahre und mit zunehmender Popularität der Musik würde ändern müssen.
Um drei Jahrzehnte nach dem Auftreten der ersten House- und Techno-Platten nachvollziehen zu können, wie all dies passiert war, beschloss ich, mich auf eine Reise über sämtliche Kontinente und Zeitzonen hinweg zu begeben, um einen Blick darauf zu werfen, wie diese Kultur in den Klimas abseits meines Heimatlandes mutiert und aufgeblüht war – wie sie ihren eigenen idiosynkratischen Charakter entwickelt, ihre eigenen Helden hervorbrachte, ihre eigenen Höhepunkte genossen und ihre eigenen Krisen überwunden hatte. Ich wollte herausfinden, wie sich die Wertvorstellungen dieser Kultur von Ort zu Ort unterschieden, wie sich der Sound unter neuen Umständen anders entwickelte und ob etwas so Fragiles und Nebulöses wie ihr „Spirit“ – was auch immer das sein mochte – in einer unbarmherzig materialistischen Welt konserviert werden konnte, unter permanenter Bedrängnis durch die Raubritter des digitalen Zeitalters sowie der Bürokratie und in zunehmenden Maße auch (zumindest bei uns im Westen) durch die Kräfte der Gentrifizierung. Ich wollte mit ein paar der Ikonoklasten, Außenseiter, Fanatiker und Gauner sprechen, die diese Szenen bevölkerten, um sie zu fragen, wie sie ihre eigene Geschichte beurteilten, und herauszufinden, warum sie sich dafür entschieden hatten, ihr Leben dieser sonderbaren, hedonistischen Welt zu widmen.
Meine Reise führte mich nicht nur in ein paar der weltweit bekanntesten Party-Kapitalen (Berlin, New York, Ibiza, Las Vegas), sondern auch in die Außenposten dieser Kultur, wo es noch immer was zu holen gibt – Orte wie China, das damals noch als der letzte unerschlossene Markt für EDM galt, oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate, wo Techno-Hedonismus inmitten der repressiven Regime und politischen Turbulenzen des Nahen Ostens ein Zuhause finden konnte. Zudem besuchte ich Teile Europas, wo Rave-Piraten immer noch über die Nebenstraßen streiften, um einen sicheren Hafen, ein Paradies der Vogelfreien zu finden und dort vor Anker gehen zu können. Ich machte mich auf die Suche nach ausgefallenen örtlichen Subkulturen wie dem israelischen Psytrance oder dem südafrikanischen Gqom-Phänomen, die von ihren jeweiligen sehr spezifischen sozialen und politischen Umgebungen geprägt waren und sich an anderen Orten nicht auf diese Art und Weise hätten entwickeln können.
Das Nachtleben gilt seit Langem als wichtiger kultureller Motivator, als Brutkasten neuer akustischer Kunstformen, das kreative Innovationen inspirieren, alternative Kulturen fördern und dazu beitragen kann, urbane Lebenswelten wiederzubeleben. Was mir aber auf meinen Reisen am meisten auffiel, war der Umstand, wie viele Menschen an so vielen unterschiedlichen Orten mir ihre Geschichten als Suche nach Freiraum erklärten. Für manche bedeutete dies, vorübergehende Zufluchtsorte für musikalische, kulturelle, sexuelle oder sogar spirituelle Ausdrucksformen zu schaffen. Andere wiederum verstanden darunter einen Raum, in dem sie Imperien aufbauen und geschäftliche Möglichkeiten ausnutzen konnten. Ein paar wenige erkannten darin einen Raum, in dem sie ihren gesellschaftlichen Widerstand zelebrierten. Doch für die Mehrheit war es ein Raum, an dem man am Wochenende ein bisschen durchdrehen und auf die Beschränkungen des „normalen“ Alltags pfeifen konnte, wo man sich bis zur Morgendämmerung gehen lassen konnte – bis die Musik verstummte und die Drogen versiegt waren.
Was seit der Ära von Acid House in den späten Achtzigerjahren unverändert geblieben war, war der ewige ideologische Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, zwischen romantischen Visionen und geschäftlichen Impulsen. Denn schon in den frühen Tagen des Raves entsprach diese Kultur sowohl einem unternehmerischen als auch utopischem Geiste. In Im Rausch der Sinne habe ich in den Raum gestellt, dass Acid House das tiefempfundene Bedürfnis nach gemeinschaftlichen Erfahrungen zum Ausdruck bringt, doch handelte es sich auch um eine frei zugängliche Szene, die Menschen die Möglichkeit bot, sich auf welche Weise auch immer einzubringen – teilzunehmen und nicht nur zu beobachten oder zu konsumieren: „Etwas zu machen, egal, ob man in einem Schlafzimmer einen Techno-Track aufnahm, eine Party in einer Lagerhalle organisierte, oder einen Sack voll Pillen verkaufte.“9 Es schien außerdem einen grundlegenden Unterschied zwischen jenen zu geben, die kleine, aber hingebungsvolle Gemeinschaften aufbauen und erhalten wollten, und jenen, die nach ständigem Wachstum strebten, damit alles so groß wie möglich werden konnte – nicht nur eine einzige Nation, die sich einem Groove hingab, sondern die gesamte Welt des freien Marktes sollte zum selben Beat tanzen.
Egal, wo ich auch landete, überall traf ich auf Träumer und Pragmatiker, Erleuchtete und Zyniker, die sich im permanenten Clinch befanden, was Electronic Dance Music nun sein sollte und warum dem so war. Die Tatsache, dass den Menschen all dies so immens wichtig war und sie einen Ausgangspunkt für so manches leidenschaftliche Streitgespräch bildete, ließ mich nie vergessen, wie viele darin mehr sahen als bloß eine weitere Ausprägung der Unterhaltungsindustrie, die ihnen materielle Profite ermöglichen konnte, sondern vielmehr eine Kultur, in die sie enorme Mengen Herzblut, Emotion und Überzeugung investiert hatten. Es handelte sich dabei um etwas, das sie wertschätzten und zu verteidigen bereit waren.
„Wenn man etwas aus dem Nichts erschafft, ist das wohl das Aufregendste überhaupt“, hat Frankie Knuckles einmal gesagt.10 Die Musik und die dazugehörige Kultur, zu deren Entstehung er beitrug, hat den Soundtrack unserer Welt neu definiert und so viele Leben an so vielen Orten in vielerlei Hinsicht beeinflusst. So auch meines. Dieses Buch stellt einen Versuch dar, herauszufinden, ob die Sache es nach so vielen Jahren immer noch wert ist, an sie zu glauben – und ob sie immer noch über die Power verfügt, wie Obama es ausgedrückt hat, unsere Fantasie zu beflügeln und unseren Horizont zu erweitern.
Wir quetschen uns in den Van und starten in einen bitterkalten Nachmittag. Das schwer in Mitleid gezogene Stadtbild grinst uns anzüglich an wie die schiefen Zähne eines Voodoo-Totenschädels. Während wir Fahrt aufnehmen, vorbei an den Schneewehen, die die Bürgersteige säumen, verkündet ein muskulöser junger Mann in Kampfbekleidung, dass er heute unser Reiseführer sein wird. „Ich werde euch das echte Detroit zeigen, jenes Detroit, dass die Touristen normalerweise nicht zu sehen bekommen“, erklärt er uns mit der dröhnenden Stimme eines strengen Predigers.
Während er unterwegs auf zahlreiche psychogeografische Sehenswürdigkeiten deutet, schwadroniert er über institutionellen Rassismus, strukturelle Armut, Polizeigewalt und städtischen Verfall – eine Erzählung geplatzter Träume, die uns durch die Unruhen, die Detroit 1967 lichterloh aufflammen ließen, sowie seine eigene Kindheit und den Niedergang dieser tollen Stadt führt, der die Welt den Automobilkapitalismus zu verdanken hat.