Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 26
»Es ist so wunderschön«, erwiderte Oliver.
»Ja, aber du fürchtest dich doch nicht etwa davor, oder?«, fragte die alte Dame, die mit großer Verwunderung bemerkte, mit welch ehrfürchtiger Scheu das Kind das Gemälde betrachtete.
»O nein, nein«, erwiderte Oliver rasch, »aber die Augen schauen so traurig und scheinen auf mich gerichtet zu sein. Es gibt mir einen Stich ins Herz«, fügte Oliver mit leiser Stimme hinzu, »als sei es lebendig, als wolle es zu mir sprechen und könne nicht.«
»Gott behüte!«, rief die alte Dame erschrocken aus. »Sag doch nicht solche Sachen, Kind. Du bist nach deiner Krankheit noch nervös und schwach. Ich will deinen Stuhl umdrehen, dann siehst du es nicht mehr. So!«, sagte die alte Dame und setzte ihre Worte sogleich in die Tat um. »Jetzt ist es dir wenigstens aus den Augen.«
Doch vor seinem geistigen Auge sah Oliver das Bild tatsächlich noch so deutlich, als hätte er seine Position nicht verändert, aber er hielt es für besser, die gute alte Dame nicht weiter zu beunruhigen, also lächelte er still, als sie ihn anschaute. Und Mrs. Bedwin, die zufrieden war, dass er sich wohler fühlte, salzte die Brühe und brockte ein paar Stückchen Röstbrot hinein, mit all der Aufmerksamkeit, die einer so wichtigen Beschäftigung gebührte. Oliver aß die Brühe mit außerordentlicher Geschwindigkeit und hatte kaum den letzten Löffel genommen, als es sachte an der Tür klopfte.
»Herein«, rief die alte Dame, und Mr. Brownlow kam ins Zimmer.
Der alte Herr trat in froher Erwartung herein, aber sobald er sich die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände hinter den Schößen seines Morgenrocks verschränkt hatte, um Oliver eingehend zu mustern, schnitt er eine ganze Reihe merkwürdiger Gesichter. Oliver wirkte von der Krankheit noch sehr mitgenommen und hatte Schatten unter den Augen. Aus Ehrerbietung vor seinem Wohltäter machte er einen vergeblichen Versuch aufzustehen, der jedoch damit endete, dass er wieder in den Stuhl zurücksank, und wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, war es tatsächlich so, dass Mr. Brownlows Herz, das für sechs gewöhnliche alte Herrn von menschenfreundlicher Wesensart ausgereicht hätte, ihm durch einen hydraulischen Vorgang, den zu erklären wir philosophisch nicht genügend bewandert sind, eine Ladung Tränen in die Augen beförderte.
»Armer Kerl, armer Kerl!«, sagte Mr. Brownlow und räusperte sich. »Ich habe heute morgen so ein Kratzen im Hals, Mrs. Bedwin. Ich fürchte, ich habe mich erkältet.«
»Hoffentlich nicht, Sir«, meinte Mrs. Bedwin. »All Ihre Sachen sind sorgfältig getrocknet und gelüftet worden, Sir!«
»Ich weiß nicht, Bedwin, ich weiß nicht«, sagte Mr. Brownlow, »ich vermute fast, ich hatte gestern beim Mittagessen eine feuchte Serviette, aber lassen wir das. Wie fühlst du dich, mein Lieber?«
»Sehr glücklich, Sir«, erwiderte Oliver. »Und wirklich sehr dankbar, Sir, weil Ihr so gut zu mir seid.«
»Braver Junge«, sagte Mr. Brownlow tapfer. »Habt Ihr ihm eine Stärkung verabreicht, Bedwin? Ein Süppchen vielleicht?«
»Sir, er hat gerade eine Schüssel schöner kräftiger Brühe bekommen«, entgegnete Mrs. Bedwin, wobei sie sich ein wenig aufrichtete und das vorletzte Wort mit Nachdruck betonte, um zu verstehen zu geben, dass zwischen einem Süppchen und einer gut zubereiteten Brühe keine wie auch immer geartete Verbindung oder Ähnlichkeit bestehe.
»Bah!«, entfuhr es Mr. Brownlow mit leichtem Schauder. »Ein paar Gläschen Portwein wären besser für ihn gewesen, nicht wahr, Tom White?«
»Ich heiße Oliver, Sir«, erwiderte der kleine Kranke mit erstauntem Blick.
»Oliver«, wiederholte Mr. Brownlow. »Oliver was? Oliver White?«
»Nein, Sir. Twist, Oliver Twist.«
»Seltsamer Name!«, meinte der alte Herr. »Warum hast du dem Polizeirichter gesagt, dein Name sei White?«
»Das habe ich nie gesagt, Sir!«, entgegnete Oliver verwundert.
Das klang so sehr nach einer Lüge, dass der alte Herr Oliver streng ins Gesicht sah. Es war jedoch unmöglich, an ihm zu zweifeln, denn aus jedem seiner etwas spitz gewordenen Züge sprach Wahrheit.
»Dann war’s wohl ein Irrtum«, sagte Mr. Brownlow. Und obwohl es keinen Grund mehr für ihn gab, den Jungen weiterhin anzuschauen, drängte sich ihm der Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen Olivers Zügen und einem vertrauten Gesicht so stark auf, dass er seinen Blick nicht abzuwenden vermochte.
»Ich hoffe, Ihr seid nicht böse mit mir, Sir!«, sagte Oliver mit flehendem Augenaufschlag.
»Aber nein«, entgegnete der alte Herr. »Nanu! Was ist das? Bedwin, schaut einmal!«
Bei diesen Worten zeigte er aufgeregt zum Gemälde über Olivers Kopf und dann wieder auf das Gesicht des Jungen. Es war das leibhaftige Ebenbild. Die Augen, der Kopf, der Mund, jeder einzelne Zug war derselbe. Ihr Ausdruck stimmte in diesem Moment derart überein, dass noch die kleinste Linie mit erstaunlicher Sorgfalt nachgezeichnet schien.
Oliver erfuhr den Grund für diesen plötzlichen Ausruf nicht, denn da er noch nicht kräftig genug war, um den Schrecken, den er ihm einjagte, zu ertragen, wurde er ohnmächtig. Sein Schwächeanfall gibt der Erzählung die Gelegenheit, die Neugierde des Lesers zu befriedigen, was die beiden jungen Schützlinge des fröhlichen alten Herrn betrifft, und von ihnen zu berichten.
Als der Dodger und sein feiner Freund Meister Bates in das Zeter und Mordio einstimmten, das sich hinter Oliver erhob, weil sie sich – wie bereits geschildert – auf ungesetzliche Art und Weise den persönlichen Besitz von Mr. Brownlow angeeignet hatten, wurden sie von einer sehr löblichen und durchaus angebrachten Sorge um sich selbst ergriffen. Da die Unantastbarkeit der Person und die Freiheit des einzelnen zu den Dingen gehören, deren sich ein wahrer Engländer an erster Stelle und mit größtem Stolz rühmt, brauche ich den Leser nicht erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Tat dazu geschaffen ist, die Jungen in der Achtung aller guten Bürger und Patrioten steigen zu lassen, in fast genau demselben Maße, wie dieser nachhaltige Beweis der Sorge um ihre Sicherheit und Selbsterhaltung dazu dient, die kleine Sammlung von grundlegenden Gesetzen zu bekräftigen und zu bestätigen, die von gewissen tiefschürfenden Philosophen mit gutem Urteilsvermögen als Haupttriebfeder aller natürlichen Taten und Handlungen festgelegt wurde. Dabei reduzieren die besagten Philosophen das Vorgehen der gütigen Dame höchst weise auf eine Angelegenheit von Grundsätzen und Theorien, während sie als sehr nettes und hübsches Kompliment an ihre erhabene Weisheit und ihr Verständnis jegliche Erwägung von Herzensgüte, Großmut oder Gefühl gänzlich außer Acht lassen. Denn diese Dinge sind zutiefst unter der Würde eines Weibes, dem allgemein zugestanden wird, weit über den zahlreichen kleinen Fehlern und Schwächen ihres Geschlechtes zu stehen.
Bedürfte ich noch eines weiteren Beweises für die strikt philosophische Natur des Verhaltens dieser beiden jungen Herrn in ihrer misslichen Lage, fände ich ihn sofort in dem Umstand (ebenfalls in den vorigen Kapiteln nachzulesen), dass sie die Verfolgung abbrachen, sobald alle Aufmerksamkeit auf Oliver gerichtet war, und sich unverzüglich auf kürzestem Weg nach Hause begaben. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, es sei die übliche Gewohnheit namhafter und gelehrter Weiser, den Weg zu einer gewichtigen Schlussfolgerung kurz zu halten – tatsächlich begeben sie sich eher auf Umwege, indem sie sich in holprigen Umschreibungen und Abschweifungen ergehen, ganz so, wie Betrunkene es unter dem Druck eines allzu großen Mitteilungsbedürfnisses gern zu tun pflegen –, so möchte ich dennoch behaupten, und zwar ganz entschieden, dass es die eingefleischte Gewohnheit vieler bedeutender Philosophen ist, bei der Darlegung ihrer Theorien große Weisheit und Voraussicht