Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 24

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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sich der Schreiber mit leiser Stimme.

      »Das Urteil ergeht sofort«, erwiderte Mr. Fang. »Drei Monate Haft … bei schwerster Arbeit, natürlich. Und jetzt räumt den Saal.«

      Zu diesem Zwecke wurde die Tür geöffnet, und zwei Wärter machten sich gerade daran, den bewusstlosen Jungen in die Zelle zu tragen, als ein älterer Mann von gepflegter, aber ärmlicher Erscheinung, der mit einem alten schwarzen Anzug bekleidet war, hastig in die Amtsstube stürzte und ans Pult des Richters trat.

      »Halt! Halt! Schafft ihn nicht fort! Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!«, rief der Neuankömmling atemlos vor Eile.

      Obwohl der befehlshabende Genius einer Amtsstube wie dieser eine unmittelbare und willkürliche Herrschaft über die Freiheiten, den guten Namen, die Stellung, ja beinahe das Leben der Untertanen Ihrer Majestät, insbesondere der ärmeren Schichten, ausübt, und obwohl in diesen Mauern Tag für Tag absonderliche Winkelzüge vollführt werden, die Engel vor Tränen erblinden lassen, dringt davon nichts an die Öffentlichkeit, außer durch die Berichte der Tagespresse. Mr. Fang war folglich nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast unter solch ungebührlicher Ruhestörung eintreten zu sehen.

      »Was soll das? Wer ist das? Werft diesen Mann hinaus. Räumt die Amtsstube!«, schrie Mr. Fang.

      »Ich werde reden!«, rief der Mann. »Ich lasse mich nicht rauswerfen. Ich habe alles gesehen. Mir gehört die Bücherbude. Ich verlange, vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abwimmeln. Mr. Fang, Ihr müsst mich anhören. Ihr dürft mich nicht abweisen, Sir!«

      Der Mann hatte recht. Sein Auftreten war kühn und entschlossen, und die Sache wurde nun zu ernst, um sie noch vertuschen zu können.

      »Vereidigt diesen Burschen«, knurrte Fang widerwillig. »Nun, was habt Ihr vorzubringen, Mann?«

      »Folgendes«, sagte der Buchhändler, »ich habe drei Jungen gesehen, zwei andere und den Angeklagten hier, die auf der anderen Straßenseite herumlungerten, als dieser Herr am Lesen war. Der Diebstahl wurde von einem der anderen Jungen begangen. Ich habe es beobachtet und gesehen, wie dieser Junge hier völlig überrascht und bestürzt darüber war.«

      Inzwischen wieder ein wenig zu Atem gekommen, fuhr der wackere Buchhändler damit fort, die genauen Umstände der Straftat etwas zusammenhängender zu schildern.

      »Warum seid Ihr nicht gleich hergekommen?«, fragte Fang nach einer Pause.

      »Ich konnte niemanden finden, der auf meine Bude aufpasst«, antwortete der Mann, »denn alle, die hätten helfen können, waren an der Verfolgungsjagd beteiligt. Erst vor fünf Minuten habe ich jemanden gefunden und bin sofort den ganzen Weg hierher gerannt.«

      »Der Kläger hat also gelesen?«, wollte Fang nach einer weiteren Pause wissen.

      »Ja«, erwiderte der Mann. »Er hat das Buch noch in der Hand.«

      »Aha, dieses Buch also?«, fragte Fang. »Ist es bezahlt?«

      »Nein, ist es nicht«, entgegnete der Mann lächelnd.

      »Ach du meine Güte, das habe ich ganz vergessen!«, rief der zerstreute alte Herr gänzlich unbefangen.

      »Ein feiner Herr, der hier einen armen Jungen beschuldigt!«, sagte Fang in dem komischen Bemühen, menschlich zu wirken. »Ich stelle fest, Sir, dass Ihr unter höchst verdächtigen und ehrenrührigen Umständen in den Besitz des Buches gekommen seid, und Ihr könnt Euch sehr glücklich schätzen, dass der Eigentümer dieses Gegenstands von einer Anklage absieht. Lasst Euch das eine Lehre sein, mein Herr, sonst wird Euch das Gesetz bald doch noch ereilen. Der Junge kommt auf freien Fuß. Und jetzt alle raus hier.«

      »Gott verd…!«, platzte der alte Herr mit all dem Zorn heraus, den er so lange unterdrückt hatte. »Gott verd…! Ich werde …«

      »Räumt den Saal!«, ordnete der Polizeirichter an. »Wachtmeister, hört Ihr schlecht? Räumt den Saal!«

      Dem Befehl wurde Folge geleistet, und der aufgebrachte Mr. Brownlow, der vor Zorn und Empörung geradezu raste, wurde, das Buch in der einen und den Bambusstock in der anderen Hand, umgehend hinausbefördert. Als er den Hof betrat, löste sich seine ganze Erregung augenblicklich in Luft auf. Der kleine Oliver Twist lag mit dem Rücken auf dem Pflaster, das Hemd aufgeknöpft und die Schläfen mit Wasser besprenkelt. Sein Gesicht war leichenblass, und ein Schüttelfrost ließ ihn am ganzen Leib erzittern.

      »Armer Junge, armer Junge!«, rief Mr. Brownlow und beugte sich über ihn. »Kann bitte jemand eine Kutsche rufen? Schnell!«

      Die Kutsche wurde besorgt, und nachdem sie Oliver vorsichtig auf einen Sitz gelegt hatten, stieg der alte Herr ein und setzte sich daneben.

      »Darf ich Euch begleiten?«, fragte der Buchhändler und schaute hinein.

      »Du meine Güte, natürlich, mein lieber Freund«, sagte Mr. Brownlow rasch. »Euch habe ich ganz vergessen. Lieber Himmel! Und noch immer habe ich dieses unglückselige Buch! Steigt ein. Armer Kerl! Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

      Der Buchhändler bestieg die Kutsche, und schon fuhren sie los.

      Zwölftes Kapitel

      In dem für Oliver besser gesorgt wird als jemals zuvor und die Erzählung zu dem fröhlichen alten Herrn und seinen jungen Freunden zurückkehrt.

      Die Kutsche ratterte davon, Mount Pleasant hinab und die Exmouth Street hinauf, und nahm beinahe denselben Weg, den Oliver gegangen war, als er London in Begleitung des Dodgers zum ersten Mal betreten hatte, bis sie schließlich, nachdem sie am Angel in Islington in eine andere Richtung abgebogen war, vor einem hübschen Haus in einer ruhigen schattigen Straße in Pentonville hielt. Hier wurde unverzüglich ein Lager bereitet, in das Mr. Brownlow seinen jungen Schützling behutsam und bequem betten ließ, und hier wurde er mit einer Fürsorge und Hingabe gepflegt, die keine Grenzen kannte.

      Doch viele Tage lang blieb die Güte seiner neuen Freunde von Oliver unbemerkt. Die Sonne ging auf und unter, und wieder auf und unter, und das viele weitere Male, und der Junge lag noch immer ausgestreckt auf seinem Krankenlager und schwand unter der trockenen und verzehrenden Hitze des Fiebers dahin. Der Wurm verrichtet sein Zerstörungswerk am Leichnam nicht wirkungsvoller als dieses schwelende Feuer das seine am lebendigen Leib.

      Matt, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus etwas, das ein langer böser Traum gewesen zu sein schien. Seinen Kopf auf den Arm gestützt, richtete er sich mit Mühe im Bett auf und blickte sich bange um.

      »Was ist das für ein Zimmer? Wohin hat man mich gebracht?«, fragte sich Oliver. »Das ist nicht der Ort, an dem ich eingeschlafen bin.«

      Er sprach die Worte mit leiser Stimme, da er noch schwach und matt war, doch hat man sie sogleich vernommen, denn schnell wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, von einer reinlich und adrett gekleideten mütterlichen alten Dame, die in einem Lehnstuhl gleich neben dem Krankenlager mit einer Näharbeit beschäftigt gewesen war.

      »Still, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft. »Du musst ganz ruhig bleiben, sonst wirst du wieder krank. Und dir ist es sehr schlecht gegangen, schlimmer ging’s nicht, dem Tode nahe. Leg dich wieder hin, so ist’s brav!« Mit diesen Worten bettete die alte Dame Olivers Kopf auf das Kissen, strich ihm das Haar aus der Stirn und blickte ihm so liebevoll und gütig ins Gesicht, dass er mit seiner kleinen ausgedörrten Hand unwillkürlich nach der ihren griff und sie sich um den Nacken legte.

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