Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 19

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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bereitgelegt, das ist alles, Oliver, das ist alles. Hahaha!«

      Der letzte Teil seiner Rede wurde von all den hoffnungsvollen Schützlingen des fröhlichen alten Herrn mit stürmischem Gejohle begrüßt, unter welchem sie sich nun an den Abendbrottisch begaben.

      Oliver aß seinen Teil, dann bereitete der Alte ihm ein Glas mit verdünntem heißem Gin zu und forderte ihn auf, es in einem Zug zu leeren, da ein anderer der Herren das Glas benötige. Oliver tat, wie ihm geheißen. Er merkte noch, wie er gleich darauf sanft auf einen der Säcke gelegt wurde und sogleich in tiefen Schlaf versank.

      Neuntes Kapitel

      Enthält weitere Angaben über den netten alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schützlinge.

      Spät am nächsten Morgen erwachte Oliver aus einem tiefen, langen Schlaf. Im Zimmer befand sich niemand außer dem alten Fagin, der zum Frühstück in einer Kasserolle Kaffee kochte und leise vor sich hin pfiff, während er mit einem eisernen Löffel stetig umrührte. Ab und an, wenn von unten auch nur das leiseste Geräusch heraufdrang, hielt er inne, um zu horchen. Hatte er sich dann vergewissert, fuhr er mit Pfeifen und Rühren fort, ganz wie zuvor.

      Obwohl Oliver nicht mehr schlief, war er doch nicht völlig wach. Es gibt einen solchen Zustand des Dösens, zwischen Schlafen und Wachen, in dem man mit halboffenen Augen und halb wahrnehmend, was um einen herum vorgeht, in fünf Minuten mehr träumt als in fünf Nächten mit fest geschlossenen Augen und Sinnen, die zu keinerlei Wahrnehmung fähig sind. Bei solchen Gelegenheiten erfährt ein Sterblicher gerade genug davon, was sein Geist treibt, um den Schimmer einer Vorstellung seiner gewaltigen Kräfte zu bekommen, davon, wie er sich von der Erde aufschwingt und Zeit und Raum überwindet, wenn er von den Fesseln seines Gefährten aus Fleisch und Blut befreit ist.

      Genau dieser Zustand war es, in dem Oliver sich befand. Er sah den Alten mit halbgeschlossenen Augen, hörte sein leises Pfeifen und erkannte das Geräusch des Löffels, der am Rand der Kasserolle kratzte, und doch waren dieselben Sinne zur selben Zeit in Gedanken mit fast jedem beschäftigt, den er je gekannt hatte.

      Als der Kaffee zubereitet war, zog Fagin die Kasserolle auf den Kaminvorsprung und wandte sich, nachdem er einige Momente in unschlüssiger Stellung verharrt hatte, als wisse er nicht so recht, was er tun solle, langsam um, betrachtete Oliver und rief ihn bei seinem Namen. Dieser antwortete nicht und schien allem Anschein nach zu schlafen.

      Als er sich dessen vergewissert hatte, ging der Alte leise zur Tür, die er verriegelte. Dann holte er aus einer Klappe im Boden – so schien es Oliver – ein kleines Kästchen hervor, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen leuchteten auf, als er den Deckel hob und hineinschaute. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und entnahm dem Kästchen eine prächtige goldene Taschenuhr, die vor Edelsteinen glitzerte.

      »Ah!«, rief Fagin, zog die Schultern empor und verzerrte sämtliche Gesichtszüge zu einem schrecklichen Grinsen. »Schlaue Hunde! Schlaue Hunde! Treu bis zuletzt! Haben dem alten Pfaffen kein Versteck verraten! Haben den alten Fagin nicht verpfiffen! Warum sollten sie auch? Hätte sie weder vor dem Strick bewahrt noch die Falltür einen Augenblick später aufschwingen lassen. Nein, nein, nein! Brave Jungs! Brave Jungs!«

      Unter diesen und anderen gemurmelten Bemerkungen ähnlicher Art verstaute Fagin die Uhr wieder an ihren sicheren Platz. Mindestens ein halbes Dutzend weitere wurden einzeln aus selbigem Kästchen geholt und mit dem gleichen Vergnügen eingehend betrachtet, außerdem Ringe, Broschen, Armreife und andere Preziosen, aus so kostbaren Materialien und von einer so vortrefflichen Machart, wie Oliver sie nie zuvor gesehen hatte oder auch nur dem Namen nach kannte.

      Als er diese Dinge zurückgelegt hatte, holte der Alte ein anderes Schmuckstück hervor, so klein, dass es in seiner Hand Platz fand. Es schien eine winzige Inschrift zu tragen, denn der Alte legte es flach auf den Tisch, schirmte es mit seiner Hand ab und brütete lange und ernst darüber nach. Schließlich legte er das Stück beiseite, als zweifle er, dass es ihm noch gelingen könne, lehnte sich im Stuhl zurück und murmelte:

      »Was für eine feine Sache die Todesstrafe doch ist! Tote können nicht mehr bereuen. Tote bringen keine hässlichen Geschichten ans Licht. Hach, das ist gut fürs Geschäft! Zu fünft hingen sie in einer Reihe, und keiner übrig, der auspacken oder umfallen könnte!«

      Als Fagin diese Worte sprach, fielen seine glänzenden dunklen Augen, die ins Leere gestarrt hatten, auf Olivers Gesicht. Die Augen des Jungen waren in stummer Neugier auf die seinen gerichtet, und obwohl das Erkennen nur einen Lidschlag währte – den kürzesten Zeitraum, den man sich vorstellen kann –, reichte es aus, um dem alten Mann zu enthüllen, dass er beobachtet worden war. Mit einem lauten Knall schloss er den Deckel des Kästchens, griff ein Brotmesser, das auf dem Tisch lag, und sprang wütend auf. Gleichwohl war er zutiefst erschüttert, denn selbst in seinem Entsetzen konnte Oliver sehen, wie das Messer in der Luft zitterte.

      »Was soll das?«, rief Fagin. »Was beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge! Los, los … sonst geht’s dir an den Kragen!«

      »Ich konnte nicht länger schlafen, Sir«, erwiderte Oliver verschüchtert. »Verzeiht, wenn ich Euch gestört habe, Sir.«

      »Warst du vor einer Stunde etwa auch schon wach?«, fragte Fagin und blickte den Jungen finster an.

      »Nein … nein, ehrlich nicht«, antwortete Oliver.

      »Bist du sicher?«, schrie Fagin, der noch finsterer blickte als zuvor und eine bedrohliche Haltung einnahm.

      »Auf mein Wort, Sir«, antwortete Oliver ernst. »Ich war wirklich nicht wach, Sir.«

      »Ruhig, mein Kleiner, ruhig!«, sagte Fagin, der jäh in sein altes Benehmen fiel und ein wenig mit dem Messer herumspielte, bevor er es weglegte, als wolle er glauben machen, er habe es nur zum Scherz ergriffen. »Das wusste ich natürlich, mein Lieber. Ich wollte dir bloß Angst machen. Bist ein tapferer Junge, Oliver. Haha, ein tapferes Kerlchen!« Kichernd rieb Fagin sich die Hände, schaute aber dennoch voller Unbehagen auf das Kästchen.

      »Hast du diese hübschen Dinge gesehen, mein Kleiner?«, fragte Fagin nach einer Weile und legte seine Hand auf das Kästchen.

      »Ja, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Ha!«, entfuhr es dem Alten, der bleich wurde. »Das … das gehört alles mir, Oliver, mein kleiner Notgroschen, von dem ich leben muss, wenn ich alt bin. Die Leute schimpfen mich einen Geizkragen, mein Kleiner – bloß ein alter Geizkragen, das ist alles.«

      Oliver dachte, der alte Herr müsse sogar ein ausgemachter Geizkragen sein, da er trotz der vielen Uhren an einem so erbärmlichen Ort lebte, doch vielleicht, so kam es ihm in den Sinn, koste ihn seine fürsorgliche Zuneigung für den Dodger und die anderen Jungen ein gutes Stück Geld, also schaute er den Alten nur ehrerbietig an und fragte, ob er aufstehen dürfe.

      »Gewiss doch, mein Guter, gewiss«, entgegnete der alte Herr. »Halt. Da in der Ecke bei der Tür steht ein Krug mit Wasser. Hol ihn her, dann gebe ich dir eine Waschschüssel, mein Lieber.«

      Oliver stand auf, durchquerte das Zimmer und bückte sich kurz, um den Krug hochzuheben. Als er sich wieder umwandte, war das Kästchen verschwunden.

      Kaum hatte er sich gewaschen, alles wieder gesäubert und den Zuber auf Anweisung Fagins zum Fenster hinaus entleert, als auch schon der Dodger zurückkehrte, in Begleitung eines munteren jungen Freundes, den Oliver die Nacht zuvor unter den Rauchern gesehen hatte und der ihm jetzt in aller Form als Charley Bates vorgestellt wurde. Die vier setzten sich mit dem Kaffee und ein paar warmen Brötchen

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