Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 14

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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im hämischen Ton geheuchelten Mitleids, dem aufreizendsten aller Tonfälle. »Weißt du, Armenhäusler, das lässt sich nu nich mehr ändern, und du hätts es auch damals nicht ändern könn, und es tut mir ehrlich leid, uns allen, und wir bedauern dich auch tüchtich. Aber du musst wissen, Armenhäusler, dass deine Mutter ein ganz liederliches Weibsstück war.«

      »Was sagst du da?«, fragte Oliver und blickte rasch auf.

      »Ein ganz liederliches Weibsstück, Armenhäusler«, erwiderte Noah unverfroren. »Und es is wirklich besser, dasse damals gestorben is, sonst wär se inzwischen im Zuchthaus, inner Verbannung oder am Galgen gelandet, was am wahrscheinlichsten is.«

      Hochrot vor Zorn sprang Oliver auf, stieß Tisch und Stuhl um, packte Noah an der Kehle und schüttelte ihn in seiner Raserei so heftig, bis diesem die Zähne im Mund klapperten, dann legte er all seine Kraft in einen einzigen mächtigen Hieb und streckte ihn zu Boden.

      Noch einen Augenblick zuvor schien der Junge das stille, schwache und entmutigte Geschöpf gewesen zu sein, das unbarmherzige Behandlung aus ihm gemacht hatte. Aber endlich waren seine Lebensgeister erwacht, die schimpfliche Beleidigung seiner verstorbenen Mutter hatte sein Blut in Wallung gebracht. Dort stand er, wie verwandelt, mit geschwellter Brust und aufrechter Haltung, mit lebhaft glänzenden Augen, und funkelte seinen feigen Peiniger an, der nun geduckt zu seinen Füßen lag, und trotzte ihm mit einer Stärke, die er nie zuvor gekannt hatte.

      »Er will mich morden!«, kreischte Noah. »Charlotte! Frau Meisterin! Der neue Junge will mich morden! Hilfe! Hilfe! Oliver is verrückt geworden! Char-lot-te!«

      Noahs Hilferufe wurden von einem lauten Aufschrei Charlottes und einem noch lauteren Mrs. Sowerberrys beantwortet. Erstere stürmte durch eine Seitentür in die Küche, während letztere auf der Treppe innehielt, um sich erst zu vergewissern, ob auch keine Lebensgefahr damit verbunden war, sich weiter hinabzubegeben.

      »Oh, du kleiner Schuft!«, schrie Charlotte, ergriff Oliver mit ihrer ganzen Kraft, die der eines körperlich ertüchtigten, durchschnittlich starken Mannes gleichkam. »Oh, du kleiner un-dank-ba-rer, blut-rüns-ti-ger, ab-scheu-li-cher Ha-lun-ke!«

      Und nach jeder Silbe versetzte sie Oliver mit voller Wucht einen Schlag, den sie jeweils, zum Ergötzen der Anwesenden, mit einem Schrei begleitete.

      Charlottes Faust war alles andere als harmlos, doch aus Furcht, sie könne Olivers Wut nicht bezwingen, stürzte Mrs. Sowerberry in die Küche und eilte zu Hilfe, indem sie ihn mit der einen Hand festhielt, während sie ihm mit der anderen das Gesicht zerkratzte. Als die Dinge derart günstig standen, erhob sich Noah vom Boden und bearbeitete Olivers Rücken mit den Fäusten.

      Diese Leibesübungen erwiesen sich dann doch als zu kraftraubend, um sie allzu lange zu betreiben. Als alle drei erschöpft waren und nicht mehr schlagen und kratzen konnten, schleiften sie Oliver, der sich sträubte und zeterte, aber kein bisschen eingeschüchtert war, in den Gerümpelkeller und sperrten ihn dort ein. Als dies vollbracht war, sank Mrs. Sowerberry in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

      »Himmel, die Gute wird ohnmächtig!«, rief Charlotte. »Ein Glas Wasser, Noah, mein Schatz, mach schnell.«

      »Oh, Charlotte!«, sagte Mrs. Sowerberry, so gut sie es mit kurzem Atem und durchnässt vom Wasser, das Noah ihr reichlich über Kopf und Schulter gegossen hatte, eben vermochte. »Oh, Charlotte, wir können froh sein, dass wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden!«

      »Ja, wirklich froh, Madam«, kam die Antwort. »Ich hoffe nur, das wird unsern Herrn lehren, nie mehr eines dieser schrecklichen Geschöpfe ins Haus zu holen, denen es von der Wiege an bestimmt ist, Räuber und Mörder zu werden. Armer Noah! Er war schon fast tot, als ich reinkam.«

      »Armer Kerl!«, sagte Mrs. Sowerberry und schaute voller Mitleid auf den Armenschüler.

      Noah, dessen oberster Westenknopf sich ungefähr auf Höhe von Olivers Scheitel befand, rieb sich, während ihm so viel Zuneigung zuteil wurde, mit den Innenseiten der Handgelenke die Augen und brachte ein paar rührselige Tränen und Schluchzer hervor.

      »Was sollen wir bloß tun?«, rief Mrs. Sowerberry. »Der Meister ist nicht daheim, es ist kein Mann im Hause, und der Junge wird die Tür in zehn Minuten eingetreten haben.« Olivers ungestüme Tritte gegen das fragliche Stückchen Holz machten diese Einschätzung sehr wahrscheinlich.

      »O Gott, o Gott, ich weiß nicht, Madam«, sagte Charlotte, »wir sollten wohl besser die Polizei rufen.«

      »Oder die Sohldaten«, schlug Mr. Claypole vor.

      »Nein, nein«, sagte Mrs. Sowerberry, der Olivers alter Freund in den Sinn gekommen war. »Lauf zu Mr. Bumble, Noah, und sag ihm, er soll schnurstracks herkommen, ohne auch nur eine Minute zu verlieren. Lass deine Mütze, beeil dich! Drück dir unterwegs ein Messer auf dein blaues Auge, damit es abschwillt.«

      Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lief Noah los, so schnell er konnte, und die Leute, die draußen unterwegs waren, staunten nicht schlecht, einen Armenschüler ohne Mütze auf dem Kopf und mit einem Klappmesser am Auge durch das Gewimmel auf den Straßen rennen zu sehen.

      Siebtes Kapitel

      Oliver bleibt widerspenstig.

      Noah Claypole rannte, so schnell er konnte, die Straße entlang und hielt kein einziges Mal an, um Atem zu holen, bis er am Tor des Armenhauses ankam. Nachdem er dort ein wenig verschnauft hatte, um für einen theatralischen Auftritt voller Tränen, Schluchzer und Entsetzen Kraft zu sammeln, klopfte er laut an das Pförtchen im Tor und zeigte dem betagten Armenhäusler, der öffnete, ein so klägliches Gesicht, dass sogar dieser, der die meiste Zeit nichts als klägliche Gesichter zu sehen bekam, erstaunt zurückfuhr.

      »Nanu, was hat der Junge bloß?«, entfuhr es dem alten Armenhäusler.

      »Mr. Bumble! Mr. Bumble!«, rief Noah mit gut gespieltem Schrecken und so lauter und aufgeregter Stimme, dass sie Mr. Bumble, der sich zufällig in der Nähe befand, nicht bloß ans Ohr drang, sondern ihn auch derart beunruhigte, dass er ohne Dreispitz in den Hof stürmte, was ein ebenso seltsamer wie bemerkenswerter Vorgang war, da er zeigt, wie selbst ein Büttel, von einem plötzlichen und starken Drang getrieben, vorübergehend vom Verlust seiner Selbstbeherrschung heimgesucht werden und seine persönliche Würde vergessen kann.

      »Oh, Mr. Bumble, Sir!«, sagte Noah. »Oliver, Sir … Oliver ist …«

      »Was? Was?«, unterbrach Mr. Bumble mit einem freudigen Aufleuchten in seinen metallenen Augen. »Doch nicht fortgelaufen, er ist doch wohl nicht fortgelaufen, oder, Noah?«

      »Nein, Sir, nein. Nicht fortgelaufen, Sir, aber er ist bösartich geworden«, erwiderte Noah. »Er hat versucht, mich zu morden, Sir, und dann wollte er noch Charlotte morden, und auch die Frau Meisterin. Oh, mir tut alles weh! Was für Schmerzen, Sir!« Und dabei drehte und wand er seinen Leib wie ein Aal in zahlreichen Windungen, um Mr. Bumble zu verstehen zu geben, dass er durch den brutalen und mörderischen Angriff Oliver Twists schwere innere Verletzungen und Schäden davongetragen habe, wegen derer er im selbigen Augenblick die größten Qualen leide.

      Als Noah bemerkte, dass die von ihm überbrachte Nachricht Mr. Bumble völlig lähmte, verlieh er ihr noch zusätzlich Wirkung, indem er seine fürchterlichen Wunden zehnmal lauter als zuvor beklagte, und als er sah, wie ein Herr in weißer Weste den Hof überquerte, wurde sein Gejammer noch dramatischer, denn er hielt es zu Recht für förderlich, die Aufmerksamkeit des besagten Herrn zu erregen und dessen Empörung hervorzurufen.

      Die

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