Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 13
»Kommt, mein Freund«, sagte Bumble und klopfte dem Mann auf die Schulter, »sie wollen den Friedhof schließen.«
Der Mann, der vollkommen regungslos stehengeblieben war, seit er seinen Platz am Grab eingenommen hatte, fuhr zusammen, hob den Kopf und starrte den Menschen, der zu ihm gesprochen hatte, ausdruckslos an, tat ein paar Schritte nach vorne und fiel ohnmächtig zu Boden. Die irrsinnige Alte war zu sehr damit beschäftigt, den Verlust ihres Mantels (den ihr der Leichenbestatter wieder abgenommen hatte) zu beklagen, um dem Mann irgendwelche Beachtung zu schenken, weshalb man eine Kanne kaltes Wasser über ihn schüttete. Als der Mann zu sich kam, geleiteten sie ihn vorsichtshalber vom Friedhof, schlossen das Tor und zerstreuten sich in alle Richtungen.
»Nun, Oliver«, fragte Mr. Sowerberry auf dem Heimweg, »wie hat es dir gefallen?«
»Ganz gut, Sir, danke«, erwiderte Oliver recht zögerlich. »Eigentlich überhaupt nicht, Sir.«
»Ach, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen«, meinte Sowerberry. »Halb so schlimm, wenn du erst einmal daran gewöhnt bist, mein Junge.«
Oliver überlegte, ob Mr. Sowerberry wohl sehr lange gebraucht habe, um sich daran zu gewöhnen, hielt es aber für besser, diese Frage nicht zu stellen, also ging er mit zur Werkstatt zurück und bedachte dabei alles, was er gesehen und gehört hatte.
Sechstes Kapitel
Oliver schreitet, von Noahs Spott angestachelt, zur Tat und versetzt ihn dabei nicht wenig in Erstaunen.
Mit Ablauf der einmonatigen Probezeit wurde Oliver in aller Form als Lehrjunge übernommen. Es herrschte damals gerade eine recht ungesunde Jahreszeit, was für das Geschäft bedeutete, dass Särge hoch im Kurs standen und Oliver innerhalb weniger Wochen viel Erfahrung sammelte. Der Erfolg von Mr. Sowerberrys klugem Plan übertraf seine kühnsten Erwartungen. Selbst die ältesten Einwohner konnten sich nicht erinnern, wann die Masern jemals so heftig und tödlich unter den Kindern gewütet hätten. So gab es zahlreiche trübselige Leichenzüge, die der kleine Oliver mit einem Trauerflor am Hut, der ihm bis ans Knie reichte, zum unbeschreiblichen Entzücken und zur Rührung aller Mütter der Stadt anführte.
Da Oliver seinen Lehrherrn auch bei den meisten Begräbnissen der Erwachsenen begleitete, damit er den Gleichmut im Benehmen und die vollkommene Beherrschung seiner Gefühlsregungen erlangen möge, die einen vollendeten Leichenbestatter erst ausmachen, bekam er oft Gelegenheit, die erstaunliche Schicksalsergebenheit und Seelenstärke zu beobachten, mit der gewisse unbeugsame Menschen ihre Prüfungen und Verluste ertrugen.
Erhielt Sowerberry beispielsweise den Auftrag zur Bestattung einer reichen alten Dame oder eines wohlhabenden Herrn, die eine große Anzahl Neffen und Nichten besaßen, so waren diese während derer vorangegangenen Krankheit völlig untröstlich gewesen und hatten ihren Gram selbst in aller Öffentlichkeit nicht bezwingen können, doch auf der Beerdigung gaben sie sich untereinander so unbekümmert, fröhlich und zufrieden, wie man sich nur denken kann, sie unterhielten sich so ungezwungen und heiter, als ob nichts geschehen wäre, was sie hätte betrüben können. Auch Ehemänner trugen den Verlust ihrer Gattinnen mit ausgesprochen heldenhafter Gelassenheit. Frauen wiederum legten ihrer verstorbenen Gatten wegen Witwentracht an, als ob sie, weit davon entfernt, sich in der Trauerkleidung zu grämen, dazu entschlossen wären, darin so schick und reizend wie nur möglich auszusehen. Es ließ sich auch beobachten, dass feine Damen und Herren, die noch während der Beerdigung große Seelenpein litten, sich bereits auf dem Heimweg wieder gut erholten und vollends davon genesen waren, bevor die Teestunde sich dem Ende zuneigte. All das war sehr erbaulich und lehrreich anzuschauen, und Oliver betrachtete es mit großer Bewunderung.
Obwohl ich der Verfasser seiner Lebensgeschichte bin, wage ich nicht mit absoluter Gewissheit zu behaupten, ob Oliver Twist sich durch das Beispiel dieser guten Leute seinem Schicksal ergeben hatte, ich kann aber versichern, dass er während vieler Monate klaglos die Schikanen und Misshandlungen durch Noah Claypole ertrug, der ihm schlimmer zusetzte als zuvor, jetzt, wo seine Eifersucht geweckt war, als er sah, wie der Neue zu schwarzem Stock und Trauerflor am Hut befördert wurde, während er, der alte Lehrjunge, weiter mit Wollmütze und Lederhose der Armenschüler herumlief. Charlotte behandelte ihn schlecht, weil Noah es tat, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil Mr. Sowerberry ihm freundschaftlich begegnete. Zwischen diesen dreien auf der einen und jeder Menge Beerdigungen auf der anderen Seite befand sich Oliver also keineswegs in solch kommoder Lage wie das hungrige Ferkel, als es versehentlich in die Kornkammer einer Brauerei gesperrt wurde.
Und jetzt komme ich zu einem höchst wichtigen Abschnitt in Olivers Geschichte, denn ich muss einen Vorfall verzeichnen, der vielleicht unbedeutend und nebensächlich erscheint, auf Umwegen aber all seine zukünftigen Aussichten und Erlebnisse von Grund auf veränderte.
Eines Tages, als Oliver und Noah zur üblichen Mittagszeit in die Küche hinabgestiegen waren, um sich an einem kleinen Stück Hammelbraten – anderthalb Pfund vom schlechtesten Nackenstück – gütlich zu tun, mussten sie, da Charlotte fortgerufen wurde, eine Weile warten, und Noah Claypole vermeinte, hungrig und boshaft wie er war, diese Zeit zu keinem besseren Zweck nutzen zu können, als den jungen Oliver Twist zu triezen und ihm das Leben schwer zu machen.
Zu diesem unschuldigen Zeitvertreib entschlossen, legte Noah seine Füße aufs Tischtuch, zog Oliver an den Haaren, zwickte ihm ins Ohr und gab seiner Meinung Ausdruck, er sei ein »Duckmäuser«, und verkündete außerdem seine Absicht, Olivers Hinrichtung am Galgen beizuwohnen, wann immer dieses begrüßenswerte Ereignis auch stattfinden mochte, und erging sich in weiteren kleinen Sticheleien, wie ein gemeiner und gehässiger Armenschüler, der er ja auch war. Da aber keine dieser Schmähungen die erwünschte Wirkung erzielte, Oliver zum Weinen zu bringen, versuchte Noah es mit noch größerer Schalkhaftigkeit, und tat bei diesem Versuch, was viele kleine Geister von weit höherem Ansehen als Noah bis heute zuweilen tun, wenn sie amüsant sein wollen. Er wurde persönlich.
»Armenhäusler«, sagte Noah, »wie geht’s deiner Mutter?«
»Sie ist tot«, antwortete Oliver, »sprich nicht von ihr.«
Oliver errötete, als er das sagte, sein Atem ging schneller, und um Mund und Nase zuckte es verdächtig, was Mr. Claypole für die Vorboten eines unmittelbar bevorstehenden Weinkrampfes hielt. In dieser Hoffnung setzte er nach.
»Woran isse denn gestorben, Armenhäusler?«, fragte Noah.
»An gebrochenem Herzen, wie mir die alte Pflegerin erzählt hat«, erwiderte Oliver, mehr zu sich selbst sprechend als Noah antwortend. »Ich glaub, ich verstehe, was das bedeutet.«
»Trallala, wer’s glaubt, wird selig, Armenhäusler«, rief Noah, als Oliver eine Träne über die Wange lief. »Was heulste denn auf einmal?«
»Nicht wegen dir«, erwiderte Oliver, der sich rasch die Träne wegwischte. »Bild dir das bloß nicht ein.«
»Ach, nich wegen mir, was?«, höhnte Noah.
»Nein, nicht wegen dir«, erwiderte Oliver scharf. »Das reicht jetzt, sprich besser nicht mehr von ihr, sieh dich vor!«
»Sieh dich vor!«, rief Noah. »Das ist gut! Sieh dich vor! Werd bloß nicht frech, Armenhäusler. Herr im Himmel, ich weiß schon, was deine Mutter für eine war!«
Dabei nickte Noah vielsagend mit dem Kopf und rümpfte seine kleine rote Nase mit so viel Muskelkraft, wie er zu diesem Zwecke aufzubringen vermochte.