Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 10

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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durchlief, halb in der Erwartung, eine schreckliche Gestalt würde langsam ihren Kopf daraus erheben, damit er vor Entsetzen den Verstand verlöre. An der Wand lehnte in peinlicher Ordnung eine lange Reihe von Brettern aus Ulmenholz, die alle gleich zugeschnitten waren. In dem trüben Licht sahen sie aus wie Gespenster, die ihre Schultern hochgezogen und die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Sargbeschläge, Ulmenholzspäne, Nägel mit blanken Köpfen und Fetzen schwarzen Tuchs lagen verstreut auf dem Boden herum, und die Wand hinter dem Ladentisch zierte eine lebensechte Darstellung zweier Totenwächter in sehr steifen Hemdkragen, die vor der Tür eines Hauses ihren Dienst verrichteten, während sich aus der Ferne ein von vier Rappen gezogener Leichenwagen näherte. Die Werkstatt war eng und stickig, und die Luft schien vom Geruch der Särge verpestet. Der Winkel unter dem Ladentisch, wo man Olivers mit Wollfetzen gefüllte Matratze hingeworfen hatte, glich einem Grab.

      Doch das waren nicht die einzigen düsteren Gefühle, die Oliver bedrückten. Er befand sich allein an einem fremden Ort, und wir wissen alle, wie mutlos und verlassen sich selbst die Tapfersten von uns in einer derartigen Lage zuweilen fühlen. Der Junge besaß keine Angehörigen, um die er sich sorgen konnte, oder die sich um ihn sorgten. Weder verspürte er den Kummer einer jüngst erlebten Trennung, noch lastete die Abwesenheit eines geliebten und vertrauten Gesichts auf seinem Herzen. Aber dennoch war ihm das Herz schwer, und als er in sein enges Bett kroch, wünschte er, es wäre sein Sarg und er könne auf dem Friedhof zu einem seligen und ewigen Schlaf finden, während das hohe Gras über seinem Kopf wogte und das Läuten der tiefen Glocken ihn in seinem Schlummer besänftigte.

      Am Morgen wurde Oliver durch laute Tritte gegen die Ladentür aufgeweckt, die sich, bevor er hastig seine Kleider überstreifen konnte, wild und ungestüm wohl fünfundzwanzigmal wiederholten. Als er die Kette abnehmen wollte, verstummten die Füße, und eine Stimme erklang.

      »Mach die Tür auf, verstanden?«, schrie die Stimme, die zu den Füßen gehörte, die gegen die Tür getreten hatten.

      »Jawohl, Sir, sofort!«, erwiderte Oliver, entfernte die Kette und drehte den Schlüssel herum.

      »Bist wohl der neue Junge, was?«, fragte die Stimme durch das Schlüsselloch.

      »Jawohl, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Wie alt bist du?«, erkundigte sich die Stimme.

      »Zehn, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Dann werd ich dich vermöbeln, wenn ich reinkomm«, sagte die Stimme, »das wirste schon seh’n, du Armenhauslümmel!« Und nachdem sie dieses feste Versprechen gegeben hatte, begann die Stimme zu pfeifen.

      Oliver war schon zu oft dieser eben mit einem launigen Ausdruck bezeichneten Tätigkeit ausgeliefert gewesen, um auch nur den geringsten Zweifel daran zu hegen, dass der Besitzer der Stimme, wer immer es auch sein mochte, sein Versprechen höchst ehrenhaft einlösen werde. Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und öffnete die Tür.

      Oliver schaute kurz die Straße hinauf, dann die Straße hinab, und schließlich auf die gegenüberliegende Seite, in der festen Annahme, der Unbekannte, der mit ihm durchs Schlüsselloch gesprochen hatte, sei ein paar Schritte gegangen, um sich aufzuwärmen, denn er sah niemanden, außer einem großen Jungen aus der Armenschule, der vor dem Haus auf einem Pfosten hockte und ein Butterbrot aß, das er mit einem Klappmesser in mundgerechte Stücke schnitt, die er mit großer Geschicklichkeit verzehrte.

      »Verzeihung, Sir«, sagte Oliver schließlich, als er sah, dass kein anderer Besucher auftauchte, »habt Ihr geklopft?«

      »Ich habe getreten«, erwiderte der Armenschüler.

      »Wollt Ihr einen Sarg, Sir?«, erkundigte sich Oliver unschuldig.

      Daraufhin schaute der Armenschüler ungeheuer grimmig drein und meinte, Oliver werde bald selbst einen brauchen, wenn er mit seinen Vorgesetzten weiterhin derlei Scherze treibe.

      »Du weiß wohl gar nich, wer ich bin, was, Armenhäusler?«, fuhr der Armenschüler fort, während er mit erbaulichem Ernst vom Pfosten herabstieg.

      »Nein, Sir«, antwortete Oliver.

      »Ich bin Mister Noah Claypole«, sagte der Armenschüler, »und du bist mir unterstellt. Nimm die Fensterläden runter, du fauler Lausebengel!«

      Mit diesen Worten versetzte Mr. Noah Claypole Oliver einen Tritt und betrat mit einer würdevollen Miene, die ihm alle Ehre machte, die Werkstatt. Für einen Jungen mit großem Kopf, kleinen Augen, plumper Gestalt und feistem Gesicht ist es ohnehin nicht einfach, würdevoll auszusehen, aber das gilt umso mehr, wenn sich zu diesen persönlichen Vorzügen obendrein noch eine rote Nase und kurze gelbe Kniebundhosen gesellen.

      Oliver wurde, als er den ersten Laden abgenommen und bei dem Versuch, unter dessen Gewicht auf einen kleinen Hof an der Seite des Hauses, wo sie tagsüber aufbewahrt wurden, zu wanken, eine Scheibe zerbrochen hatte, gnädigerweise von Noah unterstützt, der sich, nachdem er Oliver mit der Versicherung, dafür werde er sich »ein paar einfangen«, getröstet hatte, herabließ, ihm zu helfen. Bald darauf kam Mr. Sowerberry nach unten. Kurz nach ihm erschien auch Mrs. Sowerberry, und Oliver, der sich »ein paar einfing«, wie Noah richtig vorausgesagt hatte, folgte diesem jungen Herrn die Treppe hinab zum Frühstück.

      »Komm hier ans Feuer, Noah«, sagte Charlotte. »Ich hab dir’n schönes Stückchen Speck vom Frühstück des Meisters aufbewahrt. Oliver, mach die Tür hinter Mister Noah zu, und nimm dir, was ich auf den Deckel des Brotkastens gelegt hab. Hier is dein Tee, geh damit rüber zur Kiste und trink ihn dort, und beeil dich, denn du wirst in der Werkstatt gebraucht, haste gehört?«

      »Haste gehört, Armenhäusler?«, fragte Noah Claypole.

      »Mein Gott, Noah«, rief Charlotte, »was für’n ulkiger Kerl du doch bist! Warum lässte den Jungen nich in Ruh?«

      »Ihn in Ruh lassen!«, entgegnete Noah. »Es lassen ihn doch schon alle in Ruh. Weder sein Vater noch seine Mutter werden ihn je belästigen. Seine ganze Familie lässt ihn tun, was er will, oder nich, Charlotte? Hehehe!«

      »Ach, du komischer Vogel!«, sagte Charlotte und brach in herzhaftes Gelächter aus, in das Noah einstimmte, und dann schauten sie beide hämisch auf den armen Oliver Twist, der in der kältesten Ecke des Raumes zitternd auf einer Kiste hockte und seine altbackenen Brocken aß, die man eigens für ihn aufbewahrt hatte.

      Noah war ein Junge aus der Armenschule, aber keine Waise aus dem Armenhaus. Er war kein uneheliches Kind, denn er konnte seine Abstammung bis zu seinen Eltern zurückverfolgen, die ganz in der Nähe wohnten. Seine Mutter war Waschfrau, sein Vater ein dem Trunke ergebener Soldat, der mit einem Holzbein und einem täglichen Gnadensold von zweieinhalb Pence Komma irgendwas aus dem Dienst entlassen worden war. Unter den Ladenburschen in der Nachbarschaft gab es seit langem den Brauch, Noah auf offener Straße mit schmähenden Beinamen wie »Lederhose«, »Lumpenschule« und dergleichen zu belegen, und Noah hatte es ohne Widerrede ertragen. Aber jetzt, wo ihm das Schicksal einen unehelichen Waisen gesandt hatte, auf den noch der Niedrigste verächtlich mit dem Finger zeigen konnte, zahlte er es ihm mit Zinsen heim. Das bietet trefflichen Stoff zum Nachdenken. Es zeigt uns, was für ein wunderbares Ding die menschliche Natur zuweilen ist und wie sich die gleichen liebenswerten Eigenschaften ohne Unterschied sowohl beim vornehmsten Lord wie auch beim elendsten Armenschüler finden.

      Oliver lebte inzwischen etwa drei oder vier Wochen bei dem Leichenbestatter. Mr. und Mrs. Sowerberry nahmen, die Läden waren bereits geschlossen, in der kleinen hinteren Stube ihr Abendbrot zu sich, als Mr. Sowerberry, nachdem er mehrmals schüchtern zu seiner Frau hinübergeschaut hatte, anhob:

      »Meine

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