Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 9
Eine Weile zog Mr. Bumble Oliver hinter sich her, ohne ihn zu beachten oder anzusprechen, denn er trug seinen Kopf hoch erhoben, wie es einem Büttel geziemt, und da es ein windiger Tag war, wurde der kleine Oliver immer vollständig von Mr. Bumbles Rockschößen eingehüllt, wenn sie, von einer Bö erfasst, einen Blick auf die ganze Pracht seiner zerknitterten Weste und mausgrauen Kniehosen aus Plüsch freigaben. Als sie sich ihrem Ziel näherten, hielt es Mr. Bumble jedoch für angebracht, herabzuschauen, um zu prüfen, ob sich der Junge in geeignetem Zustand für die Musterung durch seinen neuen Herrn befinde, was er dann auch mit einer dazu passenden und angemessenen Miene gnädiger Gönnerschaft tat.
»Oliver!«, rief Mr. Bumble.
»Ja, Sir?«, fragte Oliver leise mit bebender Stimme.
»Schieb dir die Mütze aus dem Gesicht und halte deinen Kopf gerade, Junge.«
Obwohl Oliver sofort tat, wie ihm geheißen, und sich mit dem Rücken seiner freien Hand rasch über die Augen wischte, hing noch eine Träne darin, als er zum Büttel aufsah. Unter Mr. Bumbles strengem Blick rollte sie ihm die Wange hinab. Ihr folgte eine weitere und dann noch eine. Das Kind versuchte, sich mit aller Macht zusammenzureißen, doch vergebens. Oliver entzog Mr. Bumble die andere Hand, schlug beide vors Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen durch die dünnen, knochigen Finger rannen.
»Also wirklich!«, rief Mr. Bumble aus und blieb abrupt stehen, um seinem kleinen Schutzbefohlenen einen höchst gehässigen Blick zuzuwerfen. »Also wirklich! Von allen undankbaren und ungezogenen Jungen, die ich je gekannt habe, Oliver, bist du der …«
»Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und umklammerte die Hand, die den nur allzu vertrauten Stock hielt, »nein, Sir, nein, ich will ja brav sein, ganz ehrlich, Sir! Ich bin doch bloß ein kleiner Junge, Sir, und so … so …«
»So was?«, begehrte Mr. Bumble verwundert zu wissen.
»So allein, Sir! So ganz allein!«, weinte das Kind. »Alle hassen mich. Oh, Sir, seid nicht böse mit mir!«
Das Kind schlug sich mit der Hand gegen die Brust und schaute seinem Begleiter mit Tränen großer Seelenpein ins Gesicht.
Mr. Bumble betrachtete einen Moment lang leicht erstaunt Olivers klägliche und verzweifelte Miene, räusperte sich drei-, viermal, und nachdem er mit belegter Stimme etwas von »diesem lästigen Husten« gebrummt hatte, hieß er Oliver, sich die Tränen zu trocknen und ein braver Junge zu sein. Dann nahm er wieder seine Hand und ging schweigend mit ihm weiter.
Der Leichenbestatter hatte soeben die Läden seiner Werkstatt geschlossen und nahm beim passenderweise trüben Licht einer Kerze einige Einträge in sein Kassenbuch vor, als Mr. Bumble eintrat.
»Aha!«, rief der Leichenbestatter, hielt mitten in einem Wort beim Schreiben inne und schaute vom Buch auf. »Seid Ihr’s, Bumble?«
»Höchstpersönlich, Mr. Sowerberry«, antwortete der Büttel. »Hier! Ich habe den Jungen mitgebracht.«
Oliver machte einen Diener.
»Oh, das ist also der Junge, was?«, fragte der Leichenbestatter und hob die Kerze über den Kopf, um Oliver besser in Augenschein nehmen zu können. »Mrs. Sowerberry, wollt Ihr die Güte haben, einen Augenblick herzukommen, meine Liebe?«
Aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstatt tauchte Mrs. Sowerberry auf, in Gestalt einer kleingewachsenen, dürren, verkniffenen Frau mit zänkischer Miene.
»Meine Liebe«, sagte Mr. Sowerberry ehrerbietig, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich Euch erzählt habe.«
Oliver machte wieder einen Diener.
»Ach herrje«, rief die Frau des Leichenbestatters, »ist der aber klein!«
»Nun, er ist ein wenig klein«, erwiderte Mr. Bumble und schaute Oliver an, als sei es dessen Schuld, nicht größer zu sein. »Er ist klein, das lässt sich nicht leugnen. Aber er wird wachsen, Mrs. Sowerberry, er wird wachsen.«
»Ha! Das glaube ich gern«, entgegnete die Dame schnippisch, »von unserem Essen und Trinken. Bei Kindern aus dem Armenhaus zahlt man bloß drauf, finde ich. Die kosten stets mehr, als sie wert sind. Aber Männer wissen ja immer alles besser. Los, die Treppe runter mit dir, du kleines Knochengestell.«
Mit diesen Worten öffnete die Frau des Leichenbestatters eine Seitentür und stieß Oliver die steile Treppe hinab in eine feuchte, dunkle gemauerte Kammer, die sich unmittelbar vor dem Kohlenkeller befand und »Küche« genannt wurde. Dort saß ein schlampig gekleidetes Mädchen in ausgetretenen Schuhen und verschlissenen blauen Wollsocken, die dringend der Ausbesserung bedurften.
»Da, Charlotte«, sagte Mrs. Sowerberry, die Oliver hinabgefolgt war, »gib diesem Jungen von den kalten Fleischresten, die wir für Trip aufgehoben haben. Der hat sich seit heute morgen nicht mehr blicken lassen, also wird er darauf verzichten müssen. Ich denke mal, der Junge ist sich nicht zu fein, so etwas zu essen … nicht wahr, mein Junge?«
Oliver, dessen Augen bei der Erwähnung von Fleisch aufblitzten und der vor Begierde, es zu verzehren, bebte, verneinte, worauf man ihm einen Teller mit kargen Tafelresten vorsetzte.
Ich wünschte, ein wohlgenährter Volksökonom, in dessen Leib sich Essen und Trinken zu Galle wandeln, der kühlen Blutes und festen Herzens ist, hätte sehen können, wie Oliver sich auf diese Leckerbissen stürzte, die vom Hund verschmäht worden waren. Ich wünschte, er wäre Zeuge der schrecklichen Gier gewesen, in der Oliver die Stücke mit der ganzen Wildheit eines Ausgehungerten entzweiriss. Nur eines würde mich noch mehr erfreuen, nämlich den Volksökonomen die gleiche Mahlzeit mit demselben Genuss verzehren zu sehen.
»Nun«, fragte die Frau des Leichenbestatters, als Oliver mit seinem Abendbrot, das sie mit stillem Entsetzen und bangen Ahnungen, was seinen zukünftigen Appetit anging, verfolgt hatte, zu Ende war, »bist du fertig?«
Da sich nichts Essbares mehr in Reichweite befand, gab Oliver eine bejahende Antwort.
»Dann komm mit«, befahl Mrs. Sowerberry, nahm eine trübe schmutzige Lampe und führte ihn die Treppe hinauf, »dein Bett ist unterm Ladentisch. Es macht dir doch nichts aus, bei den Särgen zu schlafen, oder? Ist ohnehin egal, woanders ist kein Platz für dich. Na los, halt mich hier nicht die ganze Nacht auf!«
Da zögerte Oliver nicht länger, sondern folgte gehorsam seiner neuen Herrin.
Fünftes Kapitel
Oliver trifft auf neue Gefährten. Er nimmt zum ersten Mal an einem Begräbnis teil und bildet sich eine ungünstige Meinung vom Gewerbe seines Lehrherrn.
Oliver, der allein in der Werkstatt des Leichenbestatters zurückgeblieben war, stellte die Lampe auf eine Werkbank und schaute sich mit einem Gefühl von Furcht und Scheu verzagt um, was selbst viele Leute, die um einiges älter sind als er, voll und ganz verstehen werden. Ein noch nicht fertiggestellter Sarg,