Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 11

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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jäh.

      »Ja?«, fragte Mrs. Sowerberry unwirsch.

      »Nichts, meine Liebe, gar nichts«, antwortete Mr. Sowerberry.

      »Bah, wie gemein!«, rief Mrs. Sowerberry.

      »Aber nicht doch, meine Liebe«, erwiderte Mr. Sowerberry unterwürfig, »ich dachte, Ihr wolltet es nicht hören, meine Liebe. Ich wollte nur sagen …«

      »Ach, verratet mir bloß nicht, was Ihr sagen wolltet«, unterbrach Mrs. Sowerberry. »Ich bin doch unwichtig, beachtet mich einfach nicht. Ich will Euch gewiss nicht Eure Geheimnisse entlocken.« Bei diesen Worten stieß Mrs. Sowerberry ein hysterisches Lachen aus, was nichts Gutes verhieß.

      »Aber meine Liebe«, sagte Sowerberry, »ich wollte Euch um Rat fragen.«

      »Nein, nein, fragt nicht mich«, entgegnete Mrs. Sowerberry geziert, »fragt jemand anderen.« Hier folgte ein weiteres hysterisches Lachen, das Mr. Sowerberry sehr beängstigte. Dies ist eine altbewährte und weitverbreitete eheliche Vorgehensweise, die zumeist erfolgreich ist. Sie nötigte Mr. Sowerberry unversehens dazu, als besondere Vergünstigung zu erbitten, etwas sagen zu dürfen, das Mrs. Sowerberry nur allzu begierig zu hören wünschte. Nach einem weiteren kurzen Wortwechsel von noch nicht einmal einer Dreiviertelstunde Dauer wurde die Erlaubnis höchst gnädig erteilt.

      »Es geht bloß um den kleinen Twist, meine Liebe«, sagte Mr. Sowerberry. »Der Junge sieht prächtig aus.«

      »Kein Wunder, er isst ja auch genug«, bemerkte die Dame.

      »Sein Gesicht hat so einen wehmütigen Ausdruck«, sprach Mr. Sowerberry weiter, »der sehr anrührend wirkt. Er würde einen vortrefflichen Leichenzügler abgeben, meine Liebe.«

      Mrs. Sowerberry schaute nicht wenig verwundert auf. Das bemerkte Mr. Sowerberry natürlich, und so fuhr er, ohne der guten Dame Gelegenheit zu Einwänden zu geben, fort:

      »Ich meine keinen richtigen Leichenzügler für die Erwachsenen, meine Liebe, sondern nur für die Kinder. Es wäre wirklich etwas Neues, einen Leichenzügler in passender Größe zu haben. Verlasst Euch drauf, meine Liebe, es würde den allerbesten Eindruck machen.«

      Mrs. Sowerberry, die einigen Sachverstand besaß, was das Bestattungsgewerbe betraf, war von der Originalität dieses Einfalls sehr angetan, aber da es unter den gegebenen Umständen ihrer Würde abträglich gewesen wäre, dieses einzugestehen, fragte sie lediglich mit einiger Schärfe, warum ihrem Gatten ein solch naheliegender Gedanke nicht schon eher in den Sinn gekommen sei. Da Mr. Sowerberry dies ganz richtig als Zustimmung zu seinem Vorschlag auslegte, wurde umgehend beschlossen, Oliver auf der Stelle in die Geheimnisse des Gewerbes einzuweihen, zu welchem Zwecke er seinen Lehrherrn bei der allernächsten Gelegenheit, wenn dessen Dienste benötigt würden, begleiten solle.

      Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen betrat Mr. Bumble eine halbe Stunde nach dem Frühstück die Werkstatt, lehnte seinen Stock gegen den Ladentisch und holte seine große lederne Brieftasche hervor, der er ein kleines Schnipsel Papier entnahm, um es Mr. Sowerberry zu überreichen.

      »Aha!«, rief der Leichenbestatter und warf einen neugierigen Blick darauf. »Die Bestellung für einen Sarg, was?«

      »Erst für einen Sarg, dann für ein Armenbegräbnis«, erwiderte Mr. Bumble und zog den Riemen der ledernen Brieftasche, die, wie er selbst, recht dickleibig war, wieder fest.

      »Bayton«, las der Leichenbestatter und schaute von dem Schnipsel Papier zu Mr. Bumble. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«

      Bumble schüttelte den Kopf, als er antwortete: »Widerborstige Leute, Mr. Sowerberry, äußerst widerborstige Leute. Obendrein noch stolz, wie ich leider sagen muss, Sir.«

      »Stolz, was?«, entfuhr es Mr. Sowerberry höhnisch. »Na, das ist ja wohl das Letzte.«

      »Ja, unerträglich«, erwiderte der Büttel. »Geradezu übelkeiterregend, Mr. Sowerberry!«

      »So ist es«, pflichtete ihm der Leichenbestatter bei.

      »Wir haben erst vorletzte Nacht überhaupt von der Familie erfahren«, sagte der Büttel, »und auch nur deshalb, weil eine Frau, die im selben Haus logiert, bei den Behörden vorstellig geworden war, damit sie den Amtsarzt schicken, um sich eine Weibsperson anzusehen, der es sehr schlecht geht. Der Doktor war jedoch gerade zum Essen, aber sein Gehilfe, ein blitzgescheiter Kerl, hat ihnen auf der Stelle in einem Fläschchen für Schuhwichse etwas Medizin geschickt.«

      »Ah, das nenne ich kurz entschlossen gehandelt«, bemerkte der Leichenbestatter.

      »Kurz entschlossen, das will ich meinen«, erwiderte der Büttel. »Aber was ist die Folge, wie undankbar verhalten sich daraufhin diese Störenfriede, Sir? Der Gatte lässt ausrichten, die Medizin sei für das Gebrechen seiner Frau nicht geeignet, also würde sie sie nicht nehmen … sagt, sie würde sie nicht nehmen, Sir! Gute, starke, gesunde Medizin, wie sie erst eine Woche zuvor zwei irischen Arbeitern und einem Kohlenträger verabreicht worden war … kriegen sie umsonst, samt nem Fläschchen für Schuhwichse … und er lässt ausrichten, sie würde sie nicht nehmen, Sir!«

      Wie diese Greueltat Mr. Bumble mit aller Macht vor Augen trat, schlug er mit seinem Stock fest auf den Ladentisch und lief vor Empörung rot an.

      »Also wirklich«, rief der Leichenbestatter, »das hätte ich ja nie-hie-mals …«

      »Niemals, Sir!«, stieß der Büttel hervor. »Ihr nicht, und auch sonst niemand, aber jetzt ist sie tot, und wir müssen sie beerdigen, so lautet die Vorschrift, und je eher die Sache erledigt wird, desto besser.«

      Bei diesen Worten setzte sich Mr. Bumble den Dreispitz im Eifer seiner amtlichen Erregung verkehrt herum auf und stürmte aus der Werkstatt.

      »Tja, Oliver, er war so aufgebracht, dass er nicht einmal nach dir gefragt hat«, bemerkte Mr. Sowerberry, der dem Büttel nachschaute, wie er schnellen Schrittes die Straße hinabeilte.

      »Ja, Sir«, entgegnete Oliver, der sich während der Unterredung mit Bedacht verborgen gehalten hatte und noch bei der Erinnerung an den Klang von Mr. Bumbles Stimme von Kopf bis Fuß bebte. Er hätte sich jedoch die Mühe sparen können, sich den Blicken Mr. Bumbles zu entziehen, denn dieser Beamte, auf den die Prophezeiung des Herrn in der weißen Weste tiefen Eindruck gemacht hatte, war der Meinung, das Thema sei, solange Oliver sich auf Probe beim Leichenbestatter befand, besser zu meiden, bis dieser für sieben Jahre fest gebunden und die Gefahr, dass er wieder der Gemeinde zur Last falle, ein für alle Mal gesetzlich gebannt sei.

      »Gut«, sagte Mr. Sowerberry und nahm seinen Hut, »je eher wir dieses Geschäft hinter uns bringen, desto besser. Noah, gib auf die Werkstatt acht. Oliver, setz deine Mütze auf und komm mit.« Oliver gehorchte und folgte seinem Herrn bei dessen beruflichem Einsatz.

      Sie gingen eine Weile durch das am dichtesten bevölkerte Viertel der Stadt, wo das Gedränge am größten war, bogen dann in eine enge Gasse, die schmutziger und elender war als alle anderen, durch die sie bisher gekommen waren, und hielten an, um sich nach dem Haus umzusehen, dem ihre Suche galt. Die Gebäude ragten zu beiden Seiten groß und hoch empor, waren aber sehr alt und wurden von Leuten der ärmsten Schicht bewohnt, wie die heruntergekommenen Fassaden zur Genüge verrieten, auch ohne dass es des gleichzeitigen Zeugnisses, das von dem verwahrlosten Aussehen der wenigen Männer und Frauen abgelegt wurde, die mit untergeschlagenen Armen und gebeugten Leibern vereinzelt umherschlichen, bedurft hätte. Viele der Häuser besaßen Ladenfronten, die jedoch fest

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