Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 7
»Nun«, sagte der alte Herr, »ich nehme an, ihm gefällt das Kaminkehren?«
»Er ist ganz versessen darauf, Euer Ehren«, entgegnete Bumble, wobei er Oliver verstohlen zwickte, um ihm zu verstehen zu geben, besser nichts Gegenteiliges zu behaupten.
»Und er möchte wirklich gern Kaminkehrer werden, nicht wahr?«, erkundigte sich der alte Herr weiter.
»Gäben wir ihn woanders in die Lehre, würde er noch am selben Tag fortlaufen«, antwortete Mr. Bumble.
»Und dieser Mann soll sein Lehrherr werden? Ihr, Sir … Ihr werdet ihn doch gut behandeln, ihn verpflegen und all das, nicht wahr?«, fragte der alte Herr.
»Wenn ich was sach, tu ich’s auch«, erwiderte Mr. Gamfield verdrossen.
»Eure Rede klingt ungeschliffen, mein Freund, aber Ihr seht mir wie ein braver und rechtschaffener Mann aus«, meinte der alte Herr und richtete seine Brille auf den Anwärter für Olivers Lehrgeld, dessen Schurkengesicht einem ordnungsgemäß abgestempelten Beleg für Grausamkeit gleichkam. Doch der Richter war halb blind und halb kindisch, also konnte man von ihm nicht ernsthaft erwarten, das zu erkennen, was anderen offensichtlich erschien.
»Das will ich doch hoff’n, Sir«, brummte Mr. Gamfield mit einem scheelen Seitenblick.
»Ich zweifle nicht daran, dass dem so ist, mein Freund«, entgegnete der alte Herr, rückte die Brille auf der Nase zurecht und schaute sich suchend nach dem Tintenfass um.
Dies war ein entscheidender Augenblick für Olivers Schicksal. Wäre das Tintenfass dort gestanden, wo der alte Herr es vermutete, hätte er seine Schreibfeder eingetaucht und den Lehrvertrag unterzeichnet, und Oliver wäre unverzüglich fortgeschafft worden. Da es aber zufällig direkt vor seiner Nase stand, suchte er natürlich den ganzen Tisch danach ab, ohne fündig zu werden. Bei dieser Suche fiel sein Blick auf das bleiche und entsetzte Antlitz Oliver Twists, der ungeachtet aller warnenden Blicke und Winke Mr. Bumbles die abstoßende Visage seines künftigen Lehrherrn betrachtete, mit einer Mischung aus Angst und Schrecken, die zu eindeutig war, um missverstanden zu werden, auch nicht von einem halbblinden Richter.
Der alte Herr hielt inne, legte die Schreibfeder nieder und sah von Oliver zu Mr. Limbkins, der versuchte, mit heiterer und unbekümmerter Miene eine Prise Schnupftabak zu nehmen.
»Mein Junge«, sagte der alte Herr über das Pult gelehnt. Oliver fuhr bei diesen Worten zusammen, was verständlich ist, denn sie wurden in einem freundlichen Ton gesprochen, und ungewohnte Laute können einen durchaus erschrecken. Er bebte am ganzen Leib und brach in Tränen aus.
»Mein Junge«, sagte der alte Herr, »du siehst blass und verängstigt aus, was bedrückt dich?«
»Tretet ein wenig zur Seite, Büttel«, befahl der andere Richter, legte die Zeitung fort und beugte sich mit aufmerksamer Miene vor.
»Jetzt erzähle uns, was dich bedrückt, mein Junge. Hab keine Angst.«
Oliver fiel auf die Knie und flehte mit gefalteten Händen, sie sollten ihn wieder in die finstere Kammer sperren, ihn hungern lassen, prügeln oder gar töten, wenn sie wollten, aber bloß nicht mit diesem schrecklichen Mann fortschicken.
»Also wirklich«, sagte Mr. Bumble und erhob mit feierlicher Würde Hände und Augen, »also wirklich, von allen gerissenen und arglistigen Waisenjungen, die mir je untergekommen sind, Oliver, bist du doch einer der unverschämtesten!«
»Haltet den Mund, Büttel!«, befahl der andere alte Herr, als Mr. Bumble sich mit diesem gesteigerten Eigenschaftswort Luft gemacht hatte.
»Ich bitte Euer Ehren um Verzeihung«, sagte Mr. Bumble, der seinen Ohren nicht trauen mochte. »Haben Euer Ehren mit mir gesprochen?«
»Jawohl. Haltet den Mund.«
Mr. Bumble war starr vor Staunen. Einem Büttel den Mund verbieten! Eine moralische Revolution!
Der alte Herr mit der Hornbrille sah seinen Kollegen an, dieser nickte vielsagend.
»Wir lehnen es ab, diesen Lehrvertrag zu genehmigen«, verkündete der alte Herr und schob das Dokument zur Seite.
»Ich hoffe«, stammelte Mr. Limbkins, »ich hoffe, die Herren Amtsrichter gelangen aufgrund der unbestätigten Aussage eines bloßen Kindes nicht zu der Auffassung, die Vorstände des Armenhauses hätten sich irgendeines ungebührlichen Verhaltens schuldig gemacht.«
»Es war nicht Aufgabe des Gerichts, über derlei zu befinden«, sagte der andere alte Herr scharf. »Bringt den Jungen wieder ins Armenhaus und behandelt ihn gut. Er scheint es nötig zu haben.«
Am selben Abend erklärte der Herr in der weißen Weste im Brustton der Überzeugung, dass Oliver nicht nur am Galgen enden, sondern obendrein auch noch geschunden und gevierteilt werden würde. Mr. Bumble schüttelte finster und geheimnisvoll den Kopf und sagte, er wünschte, Oliver möge bald in die richtigen Hände geraten, worauf Mr. Gamfield erwiderte, er wünschte, Oliver möge ihm in die Hände geraten. Auch wenn er ansonsten in den meisten Dingen mit dem Büttel übereinstimmte, schienen sich diese beiden Wünsche doch zu widersprechen.
Am nächsten Morgen wurde die Öffentlichkeit ein weiteres Mal davon in Kenntnis gesetzt, dass Oliver Twist »in Stellung« abzugeben sei, und jedem, der ihn nehmen wolle, fünf Pfund gezahlt würden.
Viertes Kapitel
Oliver, dem eine andere Stellung angeboten wird, tritt ins Berufsleben ein.
Wenn sich in großen Familien für einen jungen heranwachsenden Mann kein sicheres Unterkommen findet, was Besitz, Anwartschaft, Erbe oder sonstige Aussichten betrifft, so ist es ein durchaus üblicher Brauch, ihn zur See zu schicken. Nach dem Muster dieses ebenso weisen wie empfehlenswerten Vorbilds beriet der Vorstand über die Zweckmäßigkeit, Oliver Twist eine Heuer zu verschaffen, an Bord irgendeines kleinen Handelsschiffes, das Kurs auf einen möglichst ungesunden Hafen nimmt. Dies empfahl sich als das Bestmögliche, was man mit ihm tun konnte, denn wahrscheinlich würde ihn der Schiffer eines Tages nach dem Essen aus einer Laune heraus zu Tode peitschen oder ihm mit einer Eisenstange den Schädel einschlagen. Beiderlei Kurzweil ist, wie allgemein bekannt, bei Herren dieses Standes ein sehr beliebter und üblicher Zeitvertreib. Je länger die Vorstände unter diesem Gesichtspunkt über den Fall berieten, umso mehr Vorteile schien dieser Plan zu besitzen. Also gelangten sie zu dem Schluss, dass die einzige Möglichkeit, Oliver endgültig zu versorgen, darin bestehe, ihn unverzüglich zur See zu schicken.
Mr. Bumble, der ausgesandt worden war, um vorab Erkundigungen einzuholen, ob sich irgendein Kapitän finde, der einen Schiffsjungen ohne Anhang haben wolle, kehrte gerade ins Armenhaus zurück, um über die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu berichten, als er am Tor niemand Geringerem begegnete als Mr. Sowerberry, dem Leichenbestatter der Gemeinde.
Mr. Sowerberry war ein großer, hagerer und grobknochiger Mann, der einen fadenscheinigen schwarzen Anzug, gestopfte Strümpfe der gleichen Farbe und dazu passendes Schuhwerk trug. Seine Züge waren von Natur aus nicht dazu geschaffen, ein Lächeln zu zeigen, aber im allgemeinen neigte er durchaus zu berufsmäßiger Heiterkeit. Sein Schritt war beschwingt und sein Gesicht verriet eine innere Zufriedenheit, als er sich Mr. Bumble näherte und ihm herzlich die Hand schüttelte.
»Ich habe gerade