Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 12
Weder Klingelzug noch Klopfer befanden sich an der offenen Tür, vor der Oliver und sein Lehrherr stehen blieben, deshalb ertastete sich der Leichenbestatter vorsichtig den Weg durch den dunklen Gang, befahl Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten und keine Angst zu haben, und stieg zum ersten Treppenabsatz empor, wo sie auf eine Tür stießen, an die Sowerberry mit seinen Knöcheln klopfte.
Ein junges Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren öffnete. Mit einem Blick ins Innere des Zimmers sah der Leichenbestatter genug, um zu wissen, dass es sich um die Behausung handelte, zu der er bestellt worden war. Er trat ein, Oliver folgte ihm.
Im Zimmer brannte kein Feuer, aber ein Mann kauerte wie entrückt am leeren Ofen. Auch eine alte Frau hatte sich einen Hocker an den kalten Herd gezogen und saß neben ihm. In der anderen Ecke drängten sich ein paar zerlumpte Kinder, und in einer kleinen Nische gegenüber der Tür lag etwas unter einer alten Decke auf dem Boden. Oliver erschauderte, als sein Blick auf diese Stelle fiel, und er drückte sich unwillkürlich enger an seinen Herrn, denn obwohl die Decke darüber lag, spürte der Junge, dass es ein Leichnam war.
Der Mann hatte ein hageres, sehr bleiches Gesicht, Haare und Bart waren grau, die Augen blutunterlaufen. Das Gesicht der alten Frau war voller Runzeln, die beiden ihr noch verbliebenen Zähne standen über die Unterlippe vor, ihre Augen waren hell und stechend. Oliver fürchtete sich, sie oder den Mann anzuschauen. Sie schienen so sehr den Ratten zu gleichen, die er draußen gesehen hatte.
»Keiner rührt sie an«, rief der Mann und fuhr mit einem Ruck hoch, als der Leichenbestatter sich der Nische näherte. »Zurück! Weg da, schert Euch zum Teufel, zurück, wenn Euch Euer Leben lieb ist!«
»Aber nicht doch, guter Mann«, sagte der Leichenbestatter, der mit Elend in all seinen Erscheinungsformen wohlvertraut war. »Aber nicht doch!«
»Ich sag Euch«, rief der Mann, ballte seine Hände und stampfte wild auf den Boden, »ich sag Euch, ich werde nicht zulassen, dass sie unter die Erde kommt. Dort fände sie keine Ruhe. Die Würmer würden sie nur quälen, statt sie zu fressen, sie ist ja nur noch Haut und Knochen.«
Der Leichenbestatter erwiderte nichts auf diese Raserei, sondern holte ein Band aus seiner Tasche hervor und kniete für einen Augenblick neben dem Leichnam nieder.
»Ach!«, schluchzte der Mann, brach in Tränen aus und sank zu Füßen der toten Frau auf die Knie. »Kniet nieder, kniet nieder, kniet alle vor ihr nieder und hört meine Worte! Ich sag euch, man hat sie verhungern lassen. Ich wusste nicht, wie schlimm es mit ihr stand, bis das Fieber über sie kam, da stachen ihr dann die Knochen durch die Haut. Wir hatten weder Feuer noch Kerzen, sie starb im Finstern … im Finstern. Sie konnte nicht einmal die Gesichter ihrer Kinder sehen, obwohl wir hörten, wie sie keuchend ihre Namen rief. Ich hab auf der Straße für sie gebettelt, dafür hat man mich ins Gefängnis gesteckt. Als ich zurückkam, lag sie im Sterben, und mir brach das Herz, denn man hat sie verhungern lassen. Ich schwöre bei Gott, Er weiß es! Man hat sie verhungern lassen!«
Er griff sich mit den Händen ins Haar und wälzte sich mit einem lauten Schrei auf dem Boden, seine Augen starrten ins Leere, und Schaum trat ihm vor die Lippen.
Die verstörten Kinder weinten bitterlich, doch die alte Frau, die bis dahin so ruhig geblieben war, als sei sie taub für alles, was um sie herum geschah, brachte sie drohend zum Schweigen, und nachdem sie dem Mann, der ausgestreckt auf dem Boden liegen blieb, das Halstuch gelockert hatte, wankte sie zum Leichenbestatter.
»Sie war meine Tochter«, sagte die alte Frau, wobei sie mit ihrem Kopf Richtung Leichnam nickte und mit einem irren Blick sprach, der an diesem Ort sogar noch schauerlicher wirkte als die Anwesenheit des Todes. »O mein Gott! Es ist doch komisch, dass ich, die sie geboren hat und schon damals eine erwachsene Frau war, noch am Leben und wohlauf bin, und sie liegt da, so kalt und steif! O mein Gott … allein der Gedanke … zum Totlachen, zum Totlachen!«
Während das arme Geschöpf in seiner unheimlichen Fröhlichkeit noch vor sich hin murmelte und kicherte, wandte sich der Leichenbestatter zum Gehen.
»Halt, halt!«, rief die alte Frau mit heiserem Krächzen. »Wird sie morgen oder übermorgen oder heute abend beerdigt? Ich hab sie doch zur Aufbahrung eingekleidet und muss ja mitgehen, versteht Ihr. Schickt mir einen großen Mantel, einen schön warmen, denn es ist bitterkalt. Wir brauchen auch noch Kuchen und Wein, bevor wir gehen! Ach, lasst gut sein, schickt ein wenig Brot … nur einen Laib Brot und einen Becher Wasser. Bekommen wir ein wenig Brot, guter Mann?«, fragte sie beschwörend und packte den Leichenbestatter am Rock, als er sich erneut Richtung Tür bewegte.
»Ja, ja«, erwiderte der Leichenbestatter, »natürlich. Von allem und jedem!«
Er befreite sich aus dem Griff der Alten und eilte, Oliver hinter sich herziehend, schnell davon.
Am nächsten Tag (die Familie war inzwischen – von Mr. Bumble höchstpersönlich – mit einem halben Vierpfundbrot und einem Stück Käse versorgt worden) kehrten Oliver und sein Lehrherr zu der armseligen Behausung zurück, wo bereits Mr. Bumble in Begleitung von vier Männern aus dem Armenhaus, die als Träger dienen sollten, eingetroffen war. Sie warfen einen verschlissenen schwarzen Mantel über die Lumpen der alten Frau und des Mannes, und nachdem man den schmucklosen Sarg zugeschraubt hatte, hoben ihn die Träger auf die Schultern und gingen damit auf die Straße hinunter.
»Ihr müsst jetzt einen Schritt zulegen, Madam!«, flüsterte Sowerberry der Alten ins Ohr. »Wir sind spät dran, und es gehört sich nicht, den Geistlichen warten zu lassen. Vorwärts, Männer … so schnell ihr könnt!«
Derart angewiesen, trabten die Träger mit ihrer leichten Last los, und die beiden Trauernden blieben ihnen so gut sie vermochten auf den Fersen. Mr. Bumble und Mr. Sowerberry schritten in schnellem Tempo voran, und Oliver, dessen Beine nicht so lang waren wie die seines Herrn, rannte neben ihnen her.
Es bestand jedoch keine so dringliche Notwendigkeit zur Eile, wie Mr. Sowerberry angenommen hatte, denn als sie den abgelegenen Winkel des Friedhofs erreichten, wo die Nesseln wucherten und die Armengräber ausgehoben wurden, war der Geistliche noch nicht eingetroffen, und der Küster, der in der Sakristei am Feuer saß, schien es keineswegs für unwahrscheinlich zu halten, dass noch eine Stunde oder so vergehen könne, bevor er käme. Also stellten sie die Bahre am Rand des Grabes ab, und die beiden Trauernden standen geduldig wartend im aufgeweichten Lehm, während ein kalter Nieselregen niederging und die zerlumpten Jungen, die das Schauspiel auf den Friedhof gelockt hatte, zwischen den Grabsteinen lärmend Versteck spielten oder sich zur Abwechslung damit vergnügten, über den Sarg hin und her zu springen. Mr. Sowerberry und Mr. Bumble, die persönlich mit dem Küster befreundet waren, setzten sich zu ihm ans Feuer und lasen Zeitung.
Nachdem etwas mehr als eine Stunde verstrichen war, sah man endlich Mr. Bumble, Mr. Sowerberry und den Küster Richtung Grab laufen. Unmittelbar darauf erschien der Geistliche, der sich unterwegs das Chorhemd überstreifte. Sodann verdrosch Mr. Bumble, um den Schein zu wahren, ein oder zwei der Jungen, und Hochwürden reichte, nachdem er so viel von der Totenmesse gelesen hatte, wie sich in vier Minuten unterbringen ließ, dem Küster sein Chorhemd und ging wieder fort.
»Los, Bill«, sagte Sowerberry zum Totengräber, »schütt’s zu!«
Das