Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 18

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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      »Schon’n Quartier?«

      »Nein.«

      »Geld?«

      »Nein.«

      Der fremde Junge pfiff und steckte seine Hände so tief in die Taschen, wie es die weiten Ärmel zuließen.

      »Wohnst du in London?«, erkundigte sich Oliver.

      »Ja, wenn ich zu Hause bin«, entgegnete der Junge. »Wahrscheinlich suchste für heute nacht noch’n Schlafplatz, was?«

      »Ja, das stimmt«, antwortete Oliver. »Seit ich unterwegs bin, habe ich keine Nacht ein Dach über dem Kopf gehabt.«

      »Lass dir deshalb mal keine grauen Haare wachsen«, sagte der junge Herr, »ich muss heut nacht noch nach London, und ich kenn ’n ehrbarn alten Herrn, der dort wohnt und dir gratis Quartier verschafft und nix dafür verlangt, jedenfalls nich, wenn irgend’n Gentleman, den er kennt, dich vorstellt. Und kennt er mich etwa? Oh nein! Nich im geringsten! Kein bisschen. Überhaupt nich!«

      Der junge Herr grinste, als wolle er andeuten, dass die letzten Gesprächsbrocken scherzhaft und ironisch gemeint waren, und während er das tat, leerte er den Bierkrug.

      Dieses unerwartete Angebot eines Obdachs war zu verlockend, um ihm widerstehen zu können, besonders da ihm umgehend die Versicherung folgte, der bereits erwähnte alte Herr würde Oliver zweifelsohne und unverzüglich eine gute Stellung verschaffen. Das führte zu einem freundschaftlichen und vertraulichen Zwiegespräch, bei dem Oliver erfuhr, dass der Name seines Freundes Jack Dawkins war und dieser der besondere Liebling und Schützling des besagten älteren Herrn sei.

      Mr. Dawkins’ Erscheinung sprach nicht allzu sehr für die Segnungen, die die Förderung seines Gönners jenen zuteil werden ließen, die er unter seine Fittiche nahm. Da er jedoch eine eher weitschweifige und liederliche Art der Rede pflegte und obendrein bekannte, dass er bei seinen guten Freunden besser unter dem Spitznamen Artful Dodger – was »Der gerissene Schwindler« bedeutet – bekannt sei, schloss Oliver, dass die moralischen Unterweisungen seines Wohltäters an jenem, weil er einen so frivolen und lasterhaften Lebenswandel pflegte, bisher verschwendet gewesen waren. Unter diesem Eindruck beschloss er insgeheim, sich bei dem alten Herrn so bald wie möglich in ein gutes Licht zu setzen, und, falls sich der Dodger als unverbesserlich erweisen solle, was er beinahe fürchtete, die Ehre seiner Bekanntschaft nicht weiter in Anspruch zu nehmen.

      Da John Dawkins London nicht vor Einbruch der Nacht betreten wollte, war es schon fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum bei Islington erreichten. Vom Angel gingen sie zur St. John’s Road hinüber, bogen in die kleine Straße, die am Sadler’s Wells Theatre endet, kamen durch Exmouth Street und Coppice Row zu dem kleinen Platz neben dem Armenhaus, überquerten den altehrwürdigen Grund, der einst den Namen Hockley-in-the-Hole trug, liefen durch die Little Saffron Hill und schließlich durch die Saffron-Hill-the-Great, wo der Dodger ein scharfes Tempo anschlug und Oliver mahnte, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben.

      Obwohl Olivers Aufmerksamkeit ganz davon beansprucht wurde, seinen Führer nicht aus den Augen zu verlieren, konnte er doch nicht widerstehen, unterwegs ein paar hastige Blicke nach links und rechts zu werfen. Noch nie hatte er eine schmutzigere und erbärmlichere Gegend gesehen. Die Gasse war eng und matschig und die Luft von ekelerregendem Gestank geschwängert. Es gab zahlreiche kleine Läden, doch die einzigen Waren im Angebot schienen scharenweise Kinder zu sein, die selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit durch die Türen rein- und rauskrochen oder drinnen schrien. Die einzigen Orte, die inmitten dieser allgegenwärtigen Fäulnis offenbar gediehen, waren die Wirtshäuser, in denen Iren der untersten Schichten aus Leibeskräften zankten. Überdachte Gänge und Höfe, die hier und da von der Hauptstraße abzweigten, gaben den Blick auf kleine verschachtelte Häuserzeilen frei, wo betrunkene Männer und Frauen sich regelrecht im Dreck suhlten, und aus verschiedenen Eingängen tauchten verstohlen große, finster aussehende Gestalten auf, allem Anschein nach auf dem Weg zu Geschäften, die offenbar weder harmlos noch allzu wohltätiger Natur waren.

      Oliver überlegte gerade, ob er nicht besser fortlaufen solle, als sie das untere Ende der Saffron Hill erreichten. Sein Führer packte ihn am Arm, stieß die Tür eines Hauses nahe der Field Lane auf und schloss sie, nachdem er ihn in den Eingang gezogen hatte, hinter sich wieder zu.

      »Nun, wie steht’s?«, rief eine Stimme von unten als Erwiderung auf einen Pfiff des Dodgers.

      »Alles in Butter!«, war die Antwort.

      Das schien irgendeine Losung oder ein Zeichen zu sein, dass alles in Ordnung war, denn am fernen Ende des Ganges glimmte an der Wand der schwache Widerschein einer Kerze auf, und das Gesicht eines Mannes lugte dort hervor, wo das Geländer der alten Küchentreppe weggebrochen war.

      »Ihr seid zu zweit«, sagte der Mann, während er die Kerze weiter vor streckte und mit der Hand seine Augen beschattete. »Wer is’n der andere?«

      »Ein neuer Kumpan«, erwiderte Jack Dawkins und zog Oliver voran.

      »Wo kommt er her?«

      »Aus Grünhausen. Is Fagin oben?«

      »Ja, er sortiert die Rotzfahnen. Rauf mit euch!« Die Kerze wurde zurückgezogen, und das Gesicht verschwand.

      Oliver, der sich mit einer Hand vorantastete, während sein Gefährte die andere fest im Griff hielt, kam nur mühsam die düstere und baufällige Treppe hinauf, die sein Führer mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit emporstieg, die verrieten, dass sie ihm wohlvertraut war. Dann stieß er die Tür zu einem Hinterzimmer auf und zog Oliver hinter sich hinein.

      Wände und Decke des Zimmers waren vor Alter und Schmutz pechschwarz. Vor dem Feuer stand ein Tisch aus Kiefernholz, darauf befanden sich eine Ingwerbierflasche, in der eine Kerze steckte, zwei oder drei Zinnkrüge, ein Laib Brot, Butter und ein Teller. In einer Bratpfanne, die mit einer Schnur am Kaminsims befestigt war, brutzelten über dem Feuer ein paar Würstchen, und darüber gebeugt stand, mit einer Röstgabel in der Hand, ein sehr alter, runzliger Mann, dessen abstoßendes Schurkengesicht hinter einem Gewirr verfilzter roter Haare verschwand. Er war mit einem schmierigen Flanellgewand ohne Kragen bekleidet und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Wäscheständer, an dem eine große Anzahl seidener Schnupftücher hing, zu teilen. Mehrere aus groben alten Säcken bestehende Schlafstätten lagen am Boden kreuz und quer durcheinander, und um den Tisch herum saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Dodger, die mit dem Gebaren erwachsener Männer Tonpfeifen rauchten und Schnaps tranken. Sie drängten sich alle um ihren Kumpan, als dieser dem Alten einige Worte zuflüsterte, drehten sich dann zu Oliver um und grinsten ihn an, ebenso der Alte, die Röstgabel in der Hand.

      »Das isser, Fagin«, sagte Jack Dawkins, »mein Freund Oliver Twist.«

      Fagin grinste und nahm Oliver, wobei er sich tief vor ihm verbeugte, bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, die Ehre seiner näheren Bekanntschaft machen zu dürfen. Daraufhin umringten ihn die jungen Herren mit den Pfeifen und schüttelten ihm kräftig beide Hände, besonders jene, mit der er sein kleines Bündel hielt. Einer der jungen Herren war eifrig besorgt, die Mütze für ihn aufzuhängen, ein anderer so zuvorkommend, seine Hände in Olivers Taschen zu stecken, damit diesem, müde wie er war, die Mühe erspart bliebe, sie vor dem Zubettgehen eigenhändig auszuleeren. Diese Höflichkeiten wären wahrscheinlich noch viel weiter gediehen, hätte die Röstgabel des Alten nicht Köpfe und Schultern der fürsorglichen Jungen, die sich in ihnen ergingen, ausgiebig bearbeitet.

      »Wir freuen uns, dich zu sehen, Oliver, sehr sogar«, sagte Fagin. »Dodger, kümmere dich um die Würstchen und rück

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