Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 21

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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Zahl ins Haus gebracht wurden) und nahm manchmal am schon beschriebenen Spiel teil, das die beiden Jungen und Fagin jeden Morgen regelmäßig aufführten. Schließlich begann er sich nach frischer Luft zu sehnen und nutzte viele Gelegenheiten, um Fagin eindringlich um Erlaubnis zu ersuchen, ihn mit seinen beiden Gefährten zur Arbeit hinausgehen zu lassen.

      Oliver war umso erpichter darauf, sich betätigen zu dürfen, weil er gesehen hatte, von welch unbeugsamer Moral der Charakter des alten Herrn war. Wann immer der Dodger oder Charley Bates abends mit leeren Händen nach Hause kamen, verbreitete er sich ausgiebig und leidenschaftlich über die Schande von Faulheit und Müßiggang und bleute ihnen die Notwendigkeit eines tätigen Lebens ein, indem er sie ohne Abendbrot zu Bett schickte. Einmal ging er sogar so weit, beide die Treppe hinabzuprügeln, aber für gewöhnlich nahmen seine Lektionen in Tugend keine derartigen Ausmaße an.

      Eines Morgens erhielt Oliver dann endlich die Erlaubnis, die er so herbeigesehnt hatte. Schon seit zwei oder drei Tagen gab es keine Schnupftücher mehr, die zu bearbeiten waren, und die Mahlzeiten fielen recht kärglich aus. Vielleicht waren das die Beweggründe des alten Herrn, seine Einwilligung zu geben, doch wie dem auch sei, er sagte Oliver, er dürfe ausgehen, und stellte ihn unter die gemeinsame Aufsicht des Dodgers und seines Freundes Charley Bates.

      So zogen die drei Jungen los. Der Dodger hatte wie immer die Ärmel seines Gehrocks aufgekrempelt und den Hut schief auf dem Kopf sitzen, Meister Bates schlenderte mit den Händen in den Taschen dahin, und zwischen ihnen Oliver, der sich fragte, wohin sie wohl gingen und in welcher Art von Handwerk man ihn als erstes unterweisen werde.

      Sie trotteten so gemächlichen und saumseligen Schrittes daher, dass Oliver schon bald vermutete, seine Gefährten wollten den alten Herrn betrügen und sich überhaupt nicht zur Arbeit begeben. Zudem besaß der Dodger die boshafte Neigung, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen und in Kellerschächte zu werfen, während Charley Bates einen sehr weit gefassten Begriff von Eigentum an den Tag legte, indem er mehrere Äpfel und Zwiebeln von den Ständen am Bordstein stibitzte und sich in die Taschen stopfte, die so erstaunlich geräumig waren, dass sie seine ganze Kleidung in sämtlichen Richtungen zu durchziehen schienen. All diese Dinge wirkten so verderbt, dass Oliver gerade seine Absicht, sich auf eigene Faust auf den Rückweg zu begeben, kundtun wollte, als seine Gedanken plötzlich durch eine rätselhafte Änderung im Verhalten des Dodgers in eine andere Richtung gelenkt wurden.

      Sie traten gerade aus einem engen Gässchen unweit des offenen Platzes in Clerkenwell, der in seltsamer Verkehrung der Tatsachen The Green genannt wird, als der Dodger abrupt stehenblieb, den Finger an die Lippen legte und seine Kumpane ganz vorsichtig und behutsam wieder zurückzog.

      »Was ist los?«, erkundigte sich Oliver.

      »Pssst!«, machte der Dodger. »Siehst du diesen alten Knilch an der Bücherbude?«

      »Den alten Herrn dort drüben?«, fragte Oliver. »Ja, den sehe ich.«

      »Den werd’n wir rupfen«, sagte der Dodger.

      »Wie’n Federvieh«, bemerkte Meister Charley Bates.

      Oliver blickte bass erstaunt von einem zum anderen, erhielt aber keine Gelegenheit, irgendwelche Fragen zu stellen, denn die zwei Jungen schlichen verstohlen über die Straße, bis dicht hinter den alten Herrn, auf den seine Aufmerksamkeit gelenkt worden war. Oliver folgte ihnen ein paar Schritte und blieb dann, unschlüssig, ob er nähertreten oder sich zurückziehen sollte, in stummer Verwunderung stehen.

      Der alte Herr war von sehr achtbarer Erscheinung, mit gepudertem Haar und goldener Brille. Er war in einen dunkelgrünen Gehrock mit schwarzem Samtkragen gekleidet, trug weiße Hosen und unter dem Arm ein elegantes Bambusstöckchen. Er hatte ein Buch von der Auslage genommen und stand nun so eifrig lesend da, als säße er in seinem Arbeitszimmer im Lehnstuhl. Sehr gut möglich, dass er sich tatsächlich dort wähnte, denn seine Versunkenheit verriet deutlich, dass er weder Bücherbude noch Straße, noch die Jungen sah, kurz gesagt, nichts außer dem Buch, welches er in einem Zuge durchlas. Sobald er das Ende einer Seite erreichte, blätterte er um und fuhr auf der nächsten Seite mit der obersten Zeile fort, und so las er aufmerksam und begierig immer weiter.

      Welch Schrecken und Entsetzen überkamen Oliver, der ein paar Schritte entfernt stand, die Augen sperrangelweit aufgerissen, als er sah, wie die Hand des Dodgers in die Tasche des alten Herrn schlüpfte und ein Schnupftuch daraus hervorzog! Als er sah, wie der Dodger selbiges an Charley Bates weiterreichte, und als er schließlich sah, wie beide in vollem Lauf um die Ecke wegliefen!

      Mit einem Schlag offenbarte sich dem Jungen das ganze Geheimnis um Schnupftücher, Uhren, Juwelen und den alten Fagin. Einen Moment lang stand er da, während ihm vor Grausen das Blut wie Feuer durch seine Adern pulsierte, so dass er zu brennen meinte, dann nahm er verwirrt und erschrocken die Beine in die Hand, und ohne zu wissen, was er tat, rannte er davon, so schnell ihn seine Füße trugen.

      All das geschah innerhalb weniger Augenblicke. Genau in dem Moment, als Oliver zu laufen begann, griff sich der alte Herr mit der Hand an die Tasche, vermisste das Schnupftuch und drehte sich rasch um. Als er den Jungen so geschwind davonstürmen sah, hielt er ihn natürlich für den Langfinger und setzte ihm mit dem Buch in der Hand nach, wobei er aus vollem Halse »Haltet den Dieb!« rief.

      Aber der alte Herr war nicht der einzige, der Zeter und Mordio schrie. Der Dodger und Meister Bates waren, da sie kein öffentliches Aufsehen erregen wollten, nicht durch die belebten Straßen geflohen, sondern hatten sich bloß um die Ecke in den erstbesten Torweg gedrückt. Sobald sie den Ruf vernahmen und Oliver wegrennen sahen, errieten sie genau, wie die Dinge standen, kamen unverzüglich hervor und schlossen sich wie ehrbare Bürger der Verfolgung an, wobei auch sie »Haltet den Dieb!« schrien.

      Obwohl von lebensklugen Menschen erzogen, fehlte Oliver die theoretische Kenntnis des schönen Grundsatzes, dass Selbsterhaltung oberstes Gebot der Natur ist. Ansonsten wäre er vielleicht auf die Lage vorbereitet gewesen. Gänzlich unvorbereitet erschreckte sie ihn umso mehr, weshalb er wie der Wind davonlief, den alten Herrn und die beiden Jungen schreiend und brüllend auf seinen Fersen.

      »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Diese Worte bergen Zauberkraft: Der Kaufmann lässt die Ladentheke in Stich, der Fuhrmann den Karren, der Schlachter das Messer, der Bäcker den Korb, der Milchmann die Kannen, der Laufbursche das Päckchen, der Schuljunge die Murmeln, der Pflasterer die Spitzhacke und das Kind seinen Federballschläger. Da stürmen sie hin, Hals über Kopf, holterdiepolter, hopplahopp, rasend, schreiend und brüllend, biegen um die Ecke, stoßen Spaziergänger um, scheuchen Hunde auf und verschrecken das Federvieh, Straßen, Plätze und Höfe hallen wider von ihrem Ruf.

      »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Der Ruf wird von hundert Stimmen aufgenommen, und an jeder Ecke schwillt die Menge an. So fliegen sie dahin, spritzen durch den Matsch, trampeln übers Pflaster, Fenster schwingen auf, Leute stürzen heraus, weiter tobt der Mob, reißt mitten in der Vorstellung das gesamte Publikum eines Straßentheaters mit, das sich der hetzenden Meute anschließt, das Gebrüll verstärkt und dem Ruf neue Kraft verleiht: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!«

      »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Tief in des Menschen Brust wurzelt die Leidenschaft, irgendetwas zu jagen. Ein elendes, atemloses Kind, vor Erschöpfung keuchend, Entsetzen im Blick, Todesangst in den Augen, dicke Schweißtropfen rinnen über sein Gesicht, jeder Nerv gespannt, um den Verfolgern zu entkommen, und wie sie ihm im Nacken sitzen und jeden Augenblick näher kommen, bejubeln sie seine schwindenden Kräfte mit noch lauteren Rufen, sie schreien und johlen vor Freude. »Haltet den Dieb!« Ja, haltet ihn um Gottes willen, und sei es allein aus Barmherzigkeit!

      Endlich zum Halten gebracht. Ein geschickter Hieb. Er liegt auf dem Pflaster, und die Menge drängt sich um ihn, jeder Neuankömmling schubst und stößt die anderen, um einen Blick

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