Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens
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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 25
»Vielleicht sieht sie mich sogar«, flüsterte Oliver und faltete die Hände, »vielleicht hat sie wirklich an meinem Bett gesessen. Mir kam es fast so vor.«
»Das war das Fieber, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft.
»Wahrscheinlich«, erwiderte Oliver, »denn der Himmel ist weit weg, und dort sind sie zu glücklich, um ans Bett eines armen Jungen hinabzusteigen. Aber wenn sie wüsste, dass ich krank bin, würde sie sogar dort Mitleid mit mir haben, denn sie war selbst sehr krank gewesen, bevor sie starb. Doch sie kann ja nichts von mir wissen«, fuhr Oliver nach kurzem Schweigen fort. »Hätte sie gesehen, wie ich verletzt wurde, wäre sie sehr traurig gewesen, aber ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr geträumt habe.«
Darauf erwiderte die alte Dame nichts, sondern wischte sich zuerst ihre Augen, und dann noch ihre Brille, die auf der Tagesdecke lag, als würde auch diese weinen. Dann holte sie Oliver ein kühles Getränk, tätschelte ihm die Wange und hieß ihn, ganz still zu liegen, damit er nicht wieder krank würde.
Also verhielt Oliver sich vollkommen ruhig, teils weil er bestrebt war, der alten Dame in allen Dingen zu gehorchen, und teils weil er, um die Wahrheit zu sagen, von den wenigen gesprochenen Worten bereits völlig erschöpft war. Bald fiel er in einen sanften Schlummer, aus dem ihn der Schein einer Kerze weckte, die sich seinem Bett näherte und in deren Licht er einen Herrn erkannte, der eine sehr große und laut tickende goldene Taschenuhr in der Hand hielt, seinen Puls fühlte und verkündete, es ginge Oliver schon viel, viel besser.
»Es geht dir doch schon viel besser, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Herr.
»Ja, danke, Sir«, erwiderte Oliver.
»Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte der Herr. »Und hungrig bist du sicher auch, nicht wahr?«
»Nein, Sir«, erwiderte Oliver.
»Ahem!«, machte der Herr. »Das dachte ich mir. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte der Herr und machte ein schlaues Gesicht.
Die alte Dame neigte ehrerbietig den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass sie den Doktor für einen sehr gescheiten Menschen hielt. Eine Ansicht, die der Doktor voll und ganz zu teilen schien.
»Du bist müde, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Doktor.
»Nein, Sir«, entgegnete Oliver.
»Nein«, wiederholte der Doktor mit wissender und zufriedener Miene, »du bist nicht müde. Und auch nicht durstig, nicht wahr?«
»Doch, Sir. Sehr sogar«, antwortete Oliver.
»Genau das habe ich erwartet, Mrs. Bedwin«, sagte der Doktor. »Es ist völlig normal, dass er Durst hat. Gebt ihm etwas Tee, Madam, und ein wenig trockenes Röstbrot ohne Butter. Es darf ihm nicht zu warm werden, Madam, aber achtet auch darauf, dass er nicht friert – wollt Ihr wohl die Güte haben?«
Die alte Dame machte einen Knicks. Nachdem der Doktor das kühle Getränk probiert und für gut befunden hatte, eilte er fort, wobei seine Stiefel auf der Treppe wichtig und behäbig knarrten.
Oliver döste bald wieder ein, und als er aufwachte, war es kurz vor zwölf. Die alte Dame wünschte ihm kurz darauf zärtlich eine gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die soeben eingetroffen war und in ihrem kleinen Bündel ein schmales Gebetbüchlein und eine große Nachthaube mitgebracht hatte. Sie setzte letztere auf den Kopf und legte ersteres auf den Tisch, und nachdem die Alte Oliver mitgeteilt hatte, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, rückte sie ihren Stuhl dicht ans Feuer und nickte, von Räuspern und Stöhnen begleitet, immer wieder kurz ein, und zuweilen sackte ihr dabei auch das Kinn auf die Brust, was jedoch keine schlimmere Wirkung zeitigte, als dass sie aufwachte, sich kräftig die Nase rieb und sogleich wieder einschlief.
Und so schlich die Nacht dahin. Oliver lag eine Weile wach und zählte die kleinen Lichtkreise, die vom Binsenschirm des Nachtlichts an die Decke geworfen wurden, oder er verfolgte mit seinen schläfrigen Augen das verschlungene Muster der Wandtapete. Die Dunkelheit und die tiefe Stille des Zimmers wirkten sehr feierlich, und als sie den Jungen auf den Gedanken brachten, dass der Tod, der hier viele Tage und Nächte über ihm geschwebt hatte, auch jetzt noch das Gemach mit der Düsternis und dem Schrecken seiner furchtbaren Anwesenheit erfüllen könnte, drehte er sein Gesicht ins Kissen und schickte ein inbrünstiges Gebet gen Himmel.
Allmählich fiel er in jenen tiefen, ruhigen Schlaf, den allein die Genesung von einem jüngst überstandenen Leiden gewährt, ein ungestörter und friedvoller Schlummer, aus dem aufzuwachen als schmerzlich empfunden wird. Wäre das der Tod, wer wollte wohl wieder erwachen zu all den Kämpfen und Nöten des Lebens, zu all den Sorgen der Gegenwart, den Ängsten um die Zukunft und vor allem zu den drückenden Erinnerungen an das Vergangene!
Als Oliver die Augen öffnete, war schon seit Stunden helllichter Tag, und als er es tat, fühlte er sich froh und glücklich. Der Tiefpunkt seiner Krankheit war überwunden. Die Welt hatte ihn wieder.
Nach drei Tagen konnte er bereits von Kissen gestützt in einem Lehnstuhl sitzen, und da er noch zu schwach zum Gehen war, hatte Mrs. Bedwin ihn die Treppe hinabtragen lassen, in die kleine Hausmädchenkammer, die ihr gehörte. Dort setzte die gute alte Dame ihn an den Kamin, nahm ebenfalls Platz, und fing vor lauter Freude, den Jungen in einem so viel besseren Zustand zu sehen, sogleich heftig zu weinen an.
»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte die alte Dame. »Ich muss mich nur mal richtig ausweinen. Siehst du, es ist schon vorbei, mir geht’s wieder gut.«
»Ihr seid sehr freundlich zu mir, Madam«, meinte Oliver.
»Na, lass mal gut sein, mein Schatz«, sagte die alte Dame, »das hat nichts mit deiner Brühe zu tun, und es wird höchste Zeit, dass du sie bekommst, denn der Doktor sagt, Mr. Brownlow würde dich heute morgen vielleicht besuchen kommen, also müssen wir unser Bestes tun, um gut auszusehen, denn je besser wir aussehen, umso mehr wird er sich freuen.« Und bei diesen Worten machte die alte Dame sich daran, in einer kleinen Kasserolle ein Schälchen Brühe zu erwärmen, die kräftig genug war, um, vorschriftsmäßig gestreckt, für dreihundertfünfzig Armenhäusler eine üppige Mahlzeit abzugeben, und das war noch vorsichtig geschätzt.
»Gefallen dir Gemälde, mein Schatz?«, fragte die alte Dame, die bemerkte, dass Oliver seinen Blick höchst aufmerksam auf ein Porträt gerichtet hielt, das genau gegenüber von seinem Stuhl an der Wand hing.
»Ich weiß nicht recht, Madam«, antwortete Oliver, ohne seine Augen von dem Bild abzuwenden. »Ich habe bisher erst so wenige gesehen, dass ich es nicht sagen kann. Was für ein schönes, sanftes Gesicht die Dame hat!«
»Ach!«, rief die alte Mrs. Bedwin. »Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst bekämen sie keine Kundschaft, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man naturgetreue Abbilder anfertigt, hätte wissen sollen, dass so etwas kein Erfolg beschieden sein kann, es ist einfach viel zu ehrlich. Viel zu ehrlich!«, sagte die alte Dame und lachte herzhaft über ihren Scharfsinn.
»Stellt es … stellt es wirklich jemanden dar, Madam?«, fragte Oliver.
»Ja«, antwortete die alte Dame und schaute kurz von der Brühe auf, »es ist ein Porträt.«
»Von wem, Madam?«, wollte Oliver wissen.
»Tja, mein