Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens

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Читать онлайн книгу Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens страница 22

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus - Charles Dickens Reclam Taschenbuch

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für den Herrn!« – »Ist das der Junge, Sir?« – »Ja.«

      Oliver lag mit Schmutz und Staub bedeckt und aus dem Mund blutend da und blickte wirr auf all die Gesichter um ihn herum, als der alte Herr von den eifrigsten Verfolgern beflissen in den Kreis gezogen und geschoben wurde.

      »Ja«, sagte der Herr, »ich fürchte, er ist es.«

      »Er fürchtet!«, raunte die Menge. »Der is vielleicht gut.«

      »Armer Kerl!«, rief der Herr. »Er hat sich verletzt.«

      »Das war ich, Sir«, meldete sich ein grobschlächtiger Kerl und trat vor. »Hab mir an seinem Maul ganz schön die Knöchel ramponiert. Ich hab ihn aufgehalten, Sir.«

      Der Bursche tippte sich mit einem Grinsen an den Hut, als erwarte er etwas für seine Mühen, doch der alte Herr, der ihn mit einem Ausdruck des Missfallens beäugte, schaute unbehaglich in die Runde, als gedächte er, selber davonzulaufen. Sehr wahrscheinlich hätte er es auch versucht und damit eine weitere Jagd ausgelöst, wäre in diesem Augenblick nicht ein Polizist (der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich als letzter eintrifft) aufgetaucht, der sich den Weg durch die Menge bahnte und Oliver am Kragen packte.

      »Los, aufstehen«, herrschte ihn der Mann an.

      »Ich war’s nicht, Sir! Ehrlich nicht, es waren zwei andere Jungen«, sagte Oliver, der flehentlich mit den Händen rang und sich umschaute. »Sie müssen hier irgendwo sein.«

      »Nein, sind sie nicht«, erwiderte der Polizist. Er meinte es zwar ironisch, dennoch entsprach es der Wahrheit, denn der Dodger und Charley Bates hatten sich durchs nächste Gässchen, das sich anbot, verdrückt. »Los, steh auf!«

      »Tut ihm nicht weh«, bat der alte Herr voller Mitleid.

      »Oh nein, ich werd ihm schon nicht weh tun«, antwortete der Polizist und riss Oliver wie zum Beweis die Jacke halb vom Leib. »Los, stell dich bloß nicht so an, ich kenn dich doch. Willst du wohl aufstehen, du kleiner Satansbraten?«

      Oliver, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, unternahm einen Versuch, sich zu erheben und wurde sofort am Kragen schnellen Schrittes durch die Straßen geschleift. Der Herr begleitete ihn an der Seite des Polizisten, und so viele von der Menge, wie zu dieser Heldentat fähig waren, trabten ein Stückchen vorneweg und schauten sich immer wieder nach Oliver um. Die Straßenjungen stießen ein Triumphgeheul aus, und so zogen sie dahin.

      Elftes Kapitel

      Handelt von dem Polizeirichter Mr. Fang und gibt eine kleine Kostprobe davon, wie er Gerechtigkeit walten lässt.

      Die Straftat war in dem Bezirk, ja sogar in unmittelbarer Nachbarschaft einer äußerst berüchtigten Wache der städtischen Polizei verübt worden. Die Menge musste sich damit begnügen, Oliver bloß durch zwei oder drei Straßen und über einen Platz namens Mutton Hill begleiten zu können, als er auch schon unter einem niedrigen Torbogen und durch ein schmutziges Gässchen hindurch zum Hintereingang dieser Armenapotheke der Schnelljustiz geführt wurde. Sie betraten einen kleinen gepflasterten Hof, wo sie auf einen stämmigen Mann trafen, der im Gesicht einen dicken Schnurrbart und in der Hand ein dickes Schlüsselbund trug.

      »Worum geht’s?«, fragte der Mann gleichgültig.

      »Ein kleiner Langfinger«, antwortete der Mann, der Oliver am Schlafittchen hatte.

      »Seid Ihr der Bestohlene, Sir?«, erkundigte sich der Mann mit den Schlüsseln.

      »Ja, der bin ich«, erwiderte der alte Herr, »aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser Junge tatsächlich mein Schnupftuch entwendet hat. Ich … ich möchte die Sache eigentlich nicht weiterverfolgen.«

      »Jetzt müsst Ihr sie auch zur Verhandlung bringen, Sir«, sagte der Mann. »Der Herr Richter wird jeden Augenblick frei sein. Rein mit dir, du kleiner Galgenstrick.«

      Letzteres war eine Aufforderung an Oliver, durch eine Tür zu treten, die der Mann aufgeschlossen hatte, während er noch sprach, und die in eine kleine gemauerte Zelle führte. Dort wurde Oliver durchsucht und, als man nichts fand, eingesperrt.

      Die Zelle glich in Größe und Form dem Lichtschacht eines Kellers, war jedoch nicht so hell. Sie befand sich an diesem Montagmorgen in einem unerträglich dreckigen Zustand, da sie bis Samstagnacht mit sechs Betrunkenen belegt gewesen war, die jetzt anderswo einsaßen. Aber das ist noch gar nichts. Auf unseren Polizeiwachen werden jede Nacht Männer und Frauen aufgrund der nichtigsten Anschuldigungen – man achte auf den genauen Wortsinn – in Kerker gesperrt, gegen die jene, die in Newgate mit den schlimmsten Verbrechern belegt werden, die angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurden, wahre Paläste sind. Jeder, der das bezweifelt, mag sich ruhig persönlich davon überzeugen.

      Als die Tür ins Schloss fiel, blickte der alte Herr beinahe ebenso kläglich drein wie Oliver. Mit einem Seufzer wandte er sich dem Buch zu, das die unschuldige Ursache der ganzen Aufregung gewesen war.

      »Da ist etwas in dem Gesicht des Jungen«, sagte der alte Herr, als er langsam fortging und sich mit dem Einband des Buches nachdenklich ans Kinn klopfte, »etwas, das mich berührt und anzieht. Ist er vielleicht gar unschuldig? Er sieht so aus … Herrje!« Der alte Herr blieb wie angewurzelt stehen, blickte zum Himmel empor und rief: »Bei meiner Seel! Woher kenne ich diesen Gesichtsausdruck bloß?«

      Nachdem er eine Weile überlegt hatte, ging der alte Herr, noch immer nachdenklich dreinschauend, in ein kleines, zum Hof gelegenes Vorzimmer. Dort zog er sich in eine Ecke zurück und beschwor vor seinem geistigen Auge ein ganzes Amphitheater an Gesichtern, die viele Jahre lang hinter einem dunklen Vorhang verborgen gewesen waren. »Nein«, sagte der alte Herr kopfschüttelnd, »es muss Einbildung sein.«

      Er ging noch einmal alle durch. Er rief sie sich vor Augen, doch war es nicht leicht, den Schleier, der sie so lange verhüllt hatte, zu lüften. Da gab es Gesichter von Freunden und Feinden, und von vielen, die beinahe Fremde waren und aufdringlich aus der Menge hervorstarrten, es gab Gesichter von blühenden jungen Mädchen, die jetzt alte Frauen waren, es gab Gesichter, die das Grab verwandelt und verschüttet hatte, die aber der Geist, der mächtiger ist als das Grab, wieder in einstige Frische und Schönheit kleidete, er verlieh den Augen wieder ihren Glanz und dem Lächeln seine Heiterkeit, er ließ die Seele durch die irdene Hülle strahlen und raunte von Anmut, die über die Gruft hinaus besteht: nur verwandelt, um erhöht, und der Erde nur abhanden gekommen, um als Licht zu scheinen und den Pfad zum Himmel mild und sanft zu erleuchten.

      Aber der alte Herr konnte sich keines Angesichts erinnern, das irgendeine Spur von Olivers Gesichtszügen verriet. So stieß er einen Seufzer aus über die Erinnerungen, die er wachgerufen hatte, und begrub sie, da er zu seinem Glück ein zerstreuter alter Herr war, wieder in den Seiten des verstaubten Buchs.

      Eine Berührung an der Schulter und die Aufforderung des Mannes mit den Schlüsseln, ihm in die Amtsstube zu folgen, brachte ihn zu sich. Hastig schloss er das Buch und wurde umgehend in die ehrfurchtgebietende Gegenwart des berühmten Mr. Fang geführt.

      Die Amtsstube war ein nach vorne gelegener Saal mit getäfelten Wänden. Mr. Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke, und an einer Seite neben der Tür befand sich eine Art hölzerner Verschlag, in den man den armen kleinen Oliver, der angesichts des furchterregenden Ortes am ganzen Leibe zitterte, inzwischen gesteckt hatte.

      Mr. Fang war ein hagerer, steifer, halsstarriger Mann mittlerer Größe, mit nur wenig Haaren, die allein an Hinterkopf und Schläfen wuchsen. Sein Gesicht war finster

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