Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

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Lou Reed - Transformer - Victor Bockris

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weißes Licht.

      Anders als heute stimmte man in den Fünfzigerjahren die Strom­spannung nicht individuell auf den Patienten ab – weder auf seine Körper­größe noch auf seinen geistigen Zustand. Jeder bekam die gleiche Dosis. Der sensible Siebzehnjährige erhielt die gleiche Dosis an Stromstößen wie ein schwergewichtiger Massenmörder. Der Strom, der durch Lous ­Körper schoss, veränderte die Schaltkreise seines Gehirns und verursachte einen fürchterlich anzusehenden Krampfanfall, der jedoch für ihn schmerzlos war, weil er das Bewusstsein verloren hatte. Als Lou einige Minuten später wieder zu sich kam, war er totenbleich, Speichel rann aus seinem Mund, seine Augen waren rot und tränten.

      Dann fand sich der erschrockene Patient wieder in einem schwach beleuchteten Wartezimmer, dem ausdruckslosen Blick einer Krankenschwester ausgesetzt, ganz so wie eine Figur in einer Geschichte seines Lieblingsschriftstellers Edgar Allan Poe. „Du musst dich entspannen“, instruierte sie den völlig verängstigten Jungen. „Wir versuchen nur, dir zu helfen. Würde einer mal ein Kissen holen, um ihn aufzusetzen? Eins-zwei-drei-vier. Und entspannen.“ Er war bereits bei vollem Bewusstsein, als sein Körper endlich aufhörte zu zucken und das Beißholz aus seinem Mund entfernt wurde. Während der nächsten halben Stunde versuchte er, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden. Voller Panik bemerkte er, dass er sein Gedächtnis verloren hatte. Gedächtnisverlust war eine unangenehme Nebenwirkung der Elektroschocktherapie, aber alle Veränderungen des Gehirns wurden als „vorübergehend“ betrachtet, und nach der Meinung der Experten kamen dauerhafte Gehirnschäden höchst selten vor.

      Als Lou Reed das Hospital verließ, dachte er jedoch, dass „Gemüse aus ihm geworden“ sei, erinnert er sich. „Du kannst kein Buch mehr lesen, denn ab Seite siebzehn musst du wieder von vorn anfangen. Oder, wenn du das Buch eine Stunde weglegst und dann wieder da beginnen willst, wo du aufgehört hast, kannst du dich nicht an die Seite erinnern, die du zuletzt gelesen hast. Ich musste immer wieder von vorn anfangen. Wenn du nur einmal um den Block gelaufen bist, hattest du vergessen, wo du warst.“ Für einen Mann, der unter anderem Schriftsteller werden wollte, war das ein schwerer Schlag.

      Die Nachwirkungen der Elektroschockbehandlung, unter denen auch Lou zu leiden hatte, beschrieb Ken Kesey in Einer flog übers Kuckucksnest folgendermaßen: „Man befand sich in einem nebligen verworrenen Bereich, ähnlich den ausgefransten Rändern des Schlafes, der grauen Zone zwischen Tag und Nacht, oder zwischen Schlafen und Wachen und Leben und Sterben.“ Lous Albträume wurden von der traurigen, stumpfweißen Farbe der Krankenhäuser beherrscht. In einem Gedicht drückte er es so aus: „How does one fall asleep / When movies of the night await, / And me eternally done in“ (Wie soll man nur einschlafen, / Wenn einen die Filme der Nacht erwarten, / um mich fertig zu machen). Jetzt fürchtete er sich vor dem Einschlafen und sollte seit jener Zeit ständig unter Schlaflosigkeit leiden.

      Lou durchlitt die Elektroschockbehandlung acht Wochen lang. Dabei verfolgte ihn die Angst, dass seine Eltern bei dem Versuch, das „Abnormale“ seiner Persönlichkeit zu eliminieren, ihn fast zerstört hatten. Das Gefühl von Entfremdung und Wirklichkeitsverlust wurde durch den Tod der berühmten Jazzsängerin Billie Holiday und den quälenden Refrain des Paul-Anka-Hits „Lonely Boy“, einer populären Ballade zum Thema „Teenagerangst“, noch verstärkt.

      Lou war der Ansicht, dass die Schockbehandlungen dazu beitrugen, alles noch in ihm vorhandene Mitgefühl radikal auszumerzen, und dass er seine Umgebung nur noch verkümmert und bruchstückhaft wahrnahm. „Ich glaube, jeder verfügt über eine bestimmte Anzahl von Persönlichkeiten“, sagte er zu einem Freund. Er zeigte ihm ein kleines Notizbuch, in das er hineingeschrieben hatte: „‚Lou drei an Lou acht – Hallo!‘ Du wachst morgens auf und fragst dich: ‚Wer ist denn eigentlich heute dran?‘ Nachdem du das festgestellt hast, schickst du ihn los. Fünfzehn Minuten später taucht ein anderer auf. Falls also gerade keiner zum Quatschen da ist, habe ich immer ein gutes Dutzend Leute in meinem Kopf, denen ich beim Sprechen zuhören kann. Ich kann mit mir selber reden.“

      Nach Ablauf der achtwöchigen Behandlung wurde Lou auf starke Beruhigungsmittel gesetzt. „ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER. ICH HASSE PSYCHIATER“, schrieb er später in dem Gedicht People Must Have To Die For The Music. Aber zutiefst in seinem Inneren waren es seine Eltern, von denen er sich verraten fühlte. Wenn sie ihn wirklich geliebt hätten, hätten sie die Elektroschockbehandlungen niemals zulassen dürfen.

      Lewis Alan Reed wurde am 2. März 1942 im Beth El Hospital in Brook­lyn geboren. Sein Vater, Sidney George Reed, ein klein gewachsener, schwarzhaariger Mann, der ursprünglich Rabinowitz hieß, war Steuer­berater. Seine Mutter, Toby Futterman, sieben Jahre jünger als ihr Mann und eine ehemalige Schönheitskönigin, war Hausfrau. Beide Eltern waren alteingesessene New-Yorker – Sidney kam aus Manhattan, Toby aus Brook­lyn – und hatten sich seit kurzem in Freeport, Long Island, als Angehörige der oberen Mittelschicht niedergelassen. Lou entwickelte sich zu einem kleinen, schmächtigen Kind mit unordentlichen schwarzen Haaren und vorstehenden Zähnen. Er war nervös und sehr sensibel. Zu dieser Zeit hatte sich seine Mutter – der Prototyp der jüdischen Mutter schlechthin – von einer Schönheitskönigin in eine reizende, höfliche, konservative Hausfrau verwandelt. Lou charakterisierte sie später in dem Song „Standing On Ceremony“, von dem er sagte: „Ich habe ihn für meine Mutter geschrieben.“ Sie wollte, dass ihrem Sohn alle Chancen offen stünden, und träumte davon, dass er eines Tages Arzt oder Anwalt werden würde.

      Das emotionale Umfeld, das Lou prägte, war durch eine alles erstickende Elternliebe gekennzeichnet. „Nichtjuden verstehen nichts von jüdischer Liebe“, schrieb Albert Goldman in seiner Biografie über Lenny Bruce, der auch eines von Lous Vorbildern bei der Gestaltung seiner späteren Rollen wurde. „Sie können diese positive, gefühlsbetonte Liebe, die gleichzeitig so von negativen Impulsen durchsetzt und so von widersprüchlichen Gefühlen belastet ist, dass sie ständig auf der Kippe steht, einfach nicht begreifen. Jüdische Liebe ist Liebe, das ist schon richtig, aber sie ist so voller Mitleid, so von oben herab, so angereichert mit schweigender Missbilligung und stummem Tadel oder sogar Abscheu, dass man als Objekt dieser Liebe ebenso gut ein Objekt des Hasses sein könnte. Jüdische Liebe hat dazu geführt, dass sich Kafka wie eine Küchenschabe fühlte … Und diese Mischung aus Selbstliebe und Selbsthass wird von Generation zu Generation weitergegeben, wie ein Brandzeichen oder ein genetischer Code. Die Mutter reicht sie an den Sohn weiter, der Sohn an die Frau, die er heiratet, und diese wiederum gibt sie an seinen Sohn, oder falls das nicht klappt spielt er Mutter und gibt sie an den Sohn weiter. Die ganze Genealogie einer Familie wird durch diese Doppeldeutigkeit strukturiert, so wie Eisenspäne in einem Magnetfeld.“

      „Lous Mutter zeigte das jüdische Mutter-Syndrom bei ihrem ersten Kind“, erzählt ein Freund der Familie. „Dem ersten Kind wird zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kleine sagt dann: ‚Schau mir zu, schau mir zu, schau mir zu.‘ Man kann ihnen nie genug Beachtung schenken, und deswegen sind sie auch nie richtig glücklich, denn sie erwarten ja, dass sie dauernd beachtet werden. Seine Mutter ging nicht frühmorgens los zur Arbeit, sie war wirklich rund um die Uhr Mutter. Immer auf dem Beobachtungsposten. Und so haben sie dem Kind eine Kulisse aufgebaut, die es im späteren Leben nie wieder finden konnte.“

      Als Lou fünf Jahre alt war, bekamen die Reeds ihr zweites Kind, Eliza­beth, zärtlich Bunny genannt. Einerseits war Lou ganz vernarrt in seine kleine Schwester, andererseits war ihre Ankunft für ihn sehr beunruhigend. Die Liebe seiner Mutter war eine Falle, und der Köder bestand in der gefühlsmäßigen Erpressung. Erstens: Da das Glück der Mutter vom Glück ihres Sohnes abhängt, ist es die Pflicht des Sohnes, glücklich zu sein. Zweitens: Mutterliebe ist so überwältigend, dass es für den Sohn unmöglich ist, ihr ein gleiches Maß an Liebe zurückzugeben; deswegen ist er grundsätzlich schuldig. Mit der Ankunft der Schwester ist die Mutterliebe nicht mehr uneingeschränkt auf ein Kind bezogen. Die Kombination dieser drei Elemente führt schließlich dazu, dass der Sohn emotional in eine Lage gerät, die ihn völlig überfordert. Er fühlt sich ohnmächtig, verwirrt und wütend. Die Falle spannt sich durch das Unvermögen, über diese Konflikte zu reden. Der Sohn unterdrückt seine feindselige Verbitterung,

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