Lou Reed - Transformer. Victor Bockris

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Lou Reed - Transformer - Victor Bockris

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Schlussfolgerung aus dieser emotionalen Konstellation traf auf Reed ebenso zu wie auf Bruce: „Die Söhne entwickeln gespaltene Persönlichkeiten. Sie lieben, wenn sie hassen, und sie hassen, wenn sie lieben sollten. Sie gehen Bindungen mit Frauen ein, die sie verletzen, und behandeln Frauen, die ihnen wahre Liebe schenken, mit Verachtung. Bei der Arbeit sind sie oft sehr talentiert, aber ihre männliche Persönlichkeit bleibt im Privatleben oft merkwürdig unterentwickelt.“

      Im Jahr 1953 – dem Jahr, in dem es mit der Rockmusik richtig losging – zogen die Reeds von ihrer Wohnung in Brooklyn in das Haus in Freeport. Das moderne, eingeschossige Anwesen lag in der Oakfield Avenue Nummer 35, an der Kreuzung von Oakfield und Maxon, in dem „The Village“ genannten Mittelschichtviertel von Freeport. Die anderen Häuser dort waren im Kolonial- oder Wildweststil erbaut, aber die Familie Reed wohnte in einem modernen, rechteckigen Flachbau, der von den Freunden auch als „Hühnerstall“ bezeichnet wurde.

      Obwohl der Bungalow von außen sehr nüchtern und ein wenig seltsam wirkte, waren die Innenräume gut geschnitten und verfügten über allen Komfort und die modische Einrichtung im Stil der Fünfzigerjahre. Der Rasen, der das Haus von allen Seiten umgab, war ein idealer Spielplatz für Kinder, und außerdem gab es zwei Garagen. Die breiten, ruhigen Straßen der Gegend dienten oft als Baseball- und Footballfelder, auf denen die Jugendlichen aus der Nachbarschaft zu einem schnellen improvisierten Spiel zusammenkamen.

      In der näheren Umgebung wohnten hauptsächlich Juden aus der oberen Mittelschicht. Genau wie den europäischen Juden, die nach wie vor einwanderten, war auch den etablierten amerikanischen Juden die Vorstellung eines großstädtischen, ghettoartigen Judenviertels unerträglich geworden. Viele jüdische Familien, die es im Nachkriegsamerika zu etwas gebracht hatten, waren aus New York weggezogen. Sie lebten in Vorstädten, die alle gleich aussahen, und versuchten die letzten Spuren des Ghettos zu ver­wischen, indem sie ein Mittelschichtleben führten, das sie amerikanisieren und integrieren würde. Durch die Abwanderung von New York nach Long Island entstand dort eine Mittelschicht in den Vorstädten, die Geld mit Stabilität gleichsetzte und Reichtum mit Status und Macht. Freeport hatte zu dieser Zeit etwas weniger als dreißigtausend Einwohner. Es lag an den Freeport und Middle Bays, direkt am Atlantik, und war durch den schmalen, vorgelagerten Long Beach vor dem Ozean geschützt. Die Stadt, eine von tausenden, die Long Island der Länge nach überzogen, war ausschließlich auf die Bedürfnisse der hier lebenden Mittelschichtfamilien eingerichtet. Und obwohl es nur fünfundvierzig Minuten dauerte, um mit dem Auto oder dem Zug nach Manhattan zu fahren, hätte man von Brooklyn, wo die Familie gerade hergekommen war, ebenso gut Lichtjahre entfernt sein können. Mit gefällig angelegten Parks, Stränden, Einkaufszentren und Schulen war Freeport das reinste Vorstadt-Utopia.

      Lewis war umgeben von Kindern, die genau dem gleichen sozialen und ökonomischen Milieu entstammten wie er selbst. Sein bester Freund, Allen Hyman, der immer bei den Reeds aß und nur anderthalb Blocks entfernt wohnte, erinnerte sich: „Ihr Haus war im Stil der Fünfziger eingerichtet, also modern für die damalige Zeit, Wohn- und Esszimmer. Meiner Ansicht nach entsprach seine Erziehung, zumindest von der sechsten Klasse an, absolut den Werten der vorstädtischen Mittelschicht.“

      Nachdem sie die Carolyn-G.-Atkinson-Grundschule und danach, im Frühling 1965, die Freeport Junior High abgeschlossen hatten, wechselten Lewis und seine Freunde zur Freeport High School (mittlerweile ersetzt durch eine Junior High, die wie ein Bunker aussieht). Diese Schule glich einem englischen Internat, wie Eton oder Rugby. Das lang gezogene Steingebäude mit seiner verzierten Fassade und den weitläufigen Rasenflächen lag an der Ecke von Pine und South Grove. Vom Haus der Reeds aus war es ein zehnminütiger Spaziergang dorthin, durch die von Bäumen gesäumten Straßen des Freeport Village hindurch und dann direkt auf der anderen Seite des verkehrsreichen Sunrise Highway. „Ich fing mit dem Brook­lyn Public School System an, und von da an habe ich alle Schulen und jede Form von Autorität gehasst“, sagte Lou später.

      Die Gegend hatte von jeher Komödianten angezogen und ihren ganz eigenen Humor entwickelt. Freeports Haupterwerb in den Zwanziger­jahren war die Muschelfischerei gewesen. Außerdem gab es hier einen aktiven Ku-Klux-Klan sowie den Deutsch-Amerikanischen Bund im nahe gelegenen Lindenhurst. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren ließen sich viele Vaudeville-Komiker von der Ostküste hier nieder. Sie brachten nicht nur sentimentalen Kitsch und einen exzentrischen Lebensstil in die Stadt, sondern in ihrem Gefolge tauchten auch die ersten Schwarzen in Freeport auf, die anfangs noch als deren Dienstboten arbeiteten. Zu dem Zeitpunkt, als die Reeds sich hier niederließen, waren diese Leute aus dem Show­geschäft gerade dabei, ihre eigenen künstlerischen Neigungen mit den musikalischen Traditionen von Freeport zu verknüpfen. Zu den direkten Nachbarn der Reeds gehörten Leo Carillo, ein Schauspieler, der in der populären Fernsehsendung The Cisco Kids den Pancho spielte, Xavier Cugats erster Marimba-Spieler und außerdem June Lockhart, die Fernseh­mutter von Lassie. Die Guylanders – wie sich die Leute von Long Island nannten – ließen sich jedoch von all diesen Berühmtheiten, Würden­trägern, Namen und Allüren, die den New-Yorkern, insbesondere den „Manhattanites“, so viel bedeuteten, nicht beeindrucken. „Von Lou ist mir am stärksten sein überwältigendes Gespür für Satire im Gedächtnis geblieben“, erinnert sich John Shebar, ein Freund aus der Highschool. „Er legte eine gewisse Respektlosigkeit an den Tag, die ungewöhnlich war. Meistens machte er sich über die Lehrer lustig oder spielte eine lächerliche Szene, die sich im Unterricht ereignet hatte, nach.“

      Als Kind beherrschte Lewis alle Nuancen des jüdischen Humors. Hier gab es keinen Witz, der sich nicht der Tatsache bewusst war, dass sich darunter eine tiefe Traurigkeit verbarg, die von dem Bösen, das untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden ist, herrührte. Jüdischer Humor spielte mit schneidenden, spöttischen Bemerkungen – stets in der Absicht, denjenigen, dem der Angriff galt, in den Augen Gottes zu erniedrigen.

      Trotz seines eher zurückhaltenden Wesens besaß Sidney Reed eine ausgeprägte Ader für den jüdischen Humor, die er an seinen Sohn vererbte. Ein Freund der Familie erinnert sich an einen Besuch und erzählt: „Lous Vater war wirklich sehr witzig, sehr trocken. Ein echter Partner für Lou. Das war Humor im jüdischen Sinn, sehr lästernd. Ein jüdisches Kompliment ist wie eine Beleidigung oder eine unerwartete Ohrfeige. Es hat immer einen Beigeschmack von Gemeinheit. So nach dem Motto: Man sollte im Angesicht Gottes besser nicht zu schlau sein. Nur Gott ist perfekt, und so hübsch du auch sein magst, ist es doch besser, wenn du dich daran erinnerst, dass dein Kopf nicht wie eine Zwiebel wächst, wenn du ihn in die Erde steckst. Das Ganze kann man dann entweder persönlich nehmen, was Lou, wie ich glaube, unglücklicherweise auch tat, oder eben nicht.“

      Durch Lous Kindheit hindurch hatte der Humor von Sidney Reed merkwürdige Auswirkungen auf das Familienleben. Seine treffsicheren Sticheleien führten dazu, dass sein Sohn sich unterlegen und herabgesetzt fühlte und seine Frau etwas dümmlich wirkte. Aber Toby war nicht nachtragend, sie bewunderte ihren Ehemann gerade, weil er so witzig und schlau war. Lou war jedoch nicht so großzügig. „Lous Mutter dachte von sich, dass sie nicht gerade die Hellste sei“, berichtet ein Familienfreund. „Lou fand es dumm von ihr, seinen Vater für so klug zu halten. Ich denke, er war eifersüchtig. Ich glaube, dass er ihre ganze Aufmerksamkeit für sich allein haben wollte.“ Einem anderen Freund zufolge war Sidney Reed nicht nur ein heller Kopf, sondern er hatte auch eine sehr gute Beziehung zu Toby, die ihn sehr liebte und schätzte – zum großen Kummer von Lewis, der besitzergreifend, selbstsüchtig und überaus eifersüchtig war. „Ich erinnere mich, dass sich seine Mutter immer sehr über seinen Vater amüsierte. Sie bewunderte ihn rückhaltlos, und ich denke, es ist schade, dass Lou seinen Vater nie so sehen konnte, wie er wirklich war.“

      Ein Freund, der Lou täglich zur Schule begleitete, erinnert sich daran, dass Toby Reed ihren Sohn mit Aufmerksamkeit und Fürsorge geradezu überschüttete. „Ich glaube, seine Mutter war ziemlich bestimmend. Das sah man an der Art, wie er über sie sprach. Sie war die typische jüdische Mutterglucke. Sie wollte, dass er gute Noten bekam und promovierte …“ Diese Haltung war natürlich auch typisch für alle die Rund-um-die-Uhr-Mütter in den Fünfzigerjahren, in denen die Familie eine große Rolle spielte. In dieser Hinsicht fand Allen Hyman sie

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