You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
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Eines Tages wird die Wahrheit den Marathon gewinnen.
Michael stand neben mir. Ich war ungefähr acht und er gerade mal vier Jahre alt, und er stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände. Wir beide sahen im Dunkeln aus unserem Zimmerfenster ehrfürchtig zu, wie an Heiligabend der Schnee fiel. Die Flocken wirbelten so dicht und heftig zur Erde, als ob über unserem ganzen Viertel eine himmlische Kissenschlacht tobte, und jede herabfallende Feder wurde vom klaren Licht einer Straßenlaterne angestrahlt. Die drei Häuser auf der anderen Straßenseite waren mit bunten Lichterketten geschmückt, während sich die Whites von schräg gegenüber für normale Glühbirnen entschieden hatten; dafür hatten sie im Garten noch dazu einen Weihnachtsmann und Rentiere mit leuchtenden Nasen aufgestellt. Weiße Lichter fassten das Dach ein, beleuchteten die Auffahrt und schimmerten blinkend in den Fenstern, die einen Blick auf den üppigsten Weihnachtsbaum boten, den wir je gesehen hatten.
All das betrachteten wir von einem Haus aus, in dem es keinen Baum, keine Lichter, kein Garnichts gab. Unser kleines Häuschen in der Jackson Street, Ecke 23. Avenue, war das einzige nicht geschmückte weit und breit. Uns kam es so vor, als sei es das einzige in der ganzen Stadt, aber Mutter versicherte uns, nein, es gebe andere Häuser und andere Zeugen Jehovas, die auch nicht Weihnachten feierten, so wie Mrs. Macons Familie zwei Straßen weiter. Aber dieses Wissen half uns nicht dabei, die ganze Sache zu begreifen: Vor unseren Augen fand so etwas Schönes statt, etwas, das uns ein wunderbares Gefühl vermittelte, aber ständig bekamen wir eingebläut, es sei nicht gut für uns. Weihnachten, so hörten wir, war nicht Gottes Wille, es war reiner Kommerz. Wenn es auf den 25. Dezember zuging, dann hatten wir den Eindruck, als ob wir Zeugen eines Festes würden, zu dem wir nicht eingeladen waren, aber dessen verbotener Geist uns trotzdem umfing.
Wir saßen da an unserem Fenster und blickten wie aus einer kalten, grauen Welt auf einen Spielzeugladen, in dem alles lebendig war und in buntesten Farben schimmerte, wo Kinder mit ihren neuen Schätzen auf die Straße hinausliefen, ihre neuen Fahrräder ausprobierten oder neue Schlitten durch den Schnee zogen. Wie sich die Freude anfühlte, die wir auf ihren Gesichtern ablesen konnten, das vermochten wir uns nur vorzustellen. Michael und ich spielten unser eigenes Spiel am Fenster: Wir wählten eine Schneeflocke im Laternenlicht, verfolgten ihren Fall und guckten, welche als erste „auftupfte“. Wir sahen den Flocken zu, wie sie in der Luft einzeln herumwirbelten und sich am Boden dann mit den anderen verbanden, zu einer wurden. An jenem Abend verfolgten wir vermutlich ein paar Dutzend und zählten laut mit, bevor wir irgendwann verstummten.
Michael sah traurig aus. Wenn ich mich heute an diesen Moment erinnere, dann sehe ich mich als großer Bruder mit meinen acht Jahren neben ihm stehen und auf ihn hinunterblicken, während ich die gleiche Traurigkeit empfand. Dann begann er zu singen:
„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way
Oh what fun it is to ride,
On a one-horse open sleigh …“
Das war das erste Mal, dass ich seine Stimme mit ihrem engelsgleichen Klang bewusst wahrnahm. Er sang leise, damit Mutter es nicht hörte. Ich fiel ein, und wir sangen zweistimmig, ein paar Strophen von „Silent Night“ und „Little Drummer Boy“. Zwei kleine Jungen, die an der Schwelle ihres ausgegrenzten Daseins Weihnachtslieder sangen, die wir in der Schule aufgeschnappt hatten, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass die Musik eines Tages unser Beruf sein würde.
Während wir sangen, lag ein breites Lächeln auf Michaels Gesicht, denn wir hatten uns ein kleines Stück Magie stibitzt. Für einen kurzen Augenblick waren wir glücklich. Aber dann hörten wir auf, weil dieses kurzlebige Gefühl uns umso stärker verdeutlichte, dass wir ja nur so taten, als ob wir an dem Fest teilnähmen. Der nächste Tag würde bei uns so sein wie jeder andere. Ich habe oft gelesen, Michael habe Weihnachten nicht gemocht, weil es in unserer Familie nie gefeiert wurde. Das stimmt nicht. Spätestens seit dem Augenblick nicht, an dem er mit vier Jahren zum Haus der Whites hinübersah und sagte: „Wenn ich mal groß bin, will ich Lichter haben. Jede Menge. Dann ist jeden Tag Weihnachten.“
„Schneller! Schneller!“, kreischte Michael mit seiner glockenhellen Stimme. Er saß vorn in einem Einkaufswagen, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, während Tito, Marlon und ich das Gefährt im vollen Lauf die 23. Avenue hinunterrattern ließen, ich hinter der Stange, meine beiden Brüder links und rechts des Wagens, weil sich die Räder auf dem Straßenbelag wild drehten und sprangen. Wir nahmen noch einmal richtig Fahrt auf und rasten los wie ein Schlittenbob-Team. In unserer Phantasie fuhren wir allerdings einen Zug, den wir uns gern auch mit zwei oder drei aneinandergereihten Einkaufswagen zusammenstellten. Sie stammten aus dem Giants-Supermarkt drei Straßen weiter, auf der anderen Seite des Sportplatzes, der hinten an unser Grundstück grenzte, aber die Wagen wurden oft irgendwo im Viertel stehen gelassen und waren deshalb leicht aufzutreiben. Michael war der „Lokführer“.
Er war ganz verrückt nach den Spielzeugeisenbahnen der Firma Lionel – kleine, solide Dampfmaschinen oder Lokomotiven, die in orangefarbenen Schachteln verpackt waren. Wenn wir mit Mutter zum Geschäft der Heilsarmee gingen, um Kleidung zu kaufen, rannte er immer sofort nach oben in die Spielzeugabteilung und sah nach, ob jemand vielleicht gerade eine gebrauchte Lionel-Bahn abgegeben hatte. In seiner Phantasie wurden unsere Einkaufswagen jedenfalls zu einem Zug mit zwei oder drei Waggons und die 23. Avenue zu einem schönen, geraden Gleis. Der Zug war zu schnell, um weitere Passagiere zusteigen zu lassen, und donnerte die Strecke entlang, während Michael die entsprechenden Geräusche machte. Dort, wo die 23. Avenue in einer Sackgasse endete, etwa fünfzig Meter von unserem Garten entfernt, kam unser Zug dann an einem imaginären Prellbock zum Stehen.
Wenn Michael nicht gerade auf der Straße Eisenbahn spielte, lag er mit seiner geliebten Lionel-Lok auf dem Teppich in unserem gemeinsamen Kinderzimmer. Unsere Eltern hatten ihm kein neues Modell kaufen können, und eine elektrische Eisenbahn mit Gleisen, Bahnhof und Signalen konnten sie sich schon gar nicht leisten. Der Traum von einer Spielzeugeisenbahn war jedenfalls weitaus früher in seinem Kopf verankert als der Traum, eines Tages auf der Bühne zu stehen.
Geschwindigkeit. Alles, was uns Kindern besonders aufregend erschien, hatte irgendwie mit dem Speed-Kick zu tun. Egal, was wir machten, es ging immer darum, schneller zu sein, uns gegenseitig zu überholen. Hätte unser Vater um diesen Hunger nach Tempo gewusst, hätte er es uns sicherlich verboten: Die Gefahr von Verletzungen betrachtete er stets als großes Karriere-Risiko.
Als uns die Einkaufswagen-Zugfahrten irgendwann langweilig wurden, bauten wir uns „Go-Karts“ aus Kisten, Kinderwagenrädern und Brettern, die wir auf einem Schrottplatz in der Nähe besorgten. Tito war der „Ingenieur“ unter uns Brüdern und für die Konstruktion zuständig. Er bastelte auch ständig an Uhren und Radios herum, nahm sie auf dem Küchentisch auseinander und setzte sie wieder zusammen, und er sah Joseph gern dabei zu, wenn der an seinem Buick herumschraubte, der neben dem Haus geparkt war. Dadurch wusste er natürlich auch, wo der Werkzeugkasten unseres Vaters stand. Wir nagelten drei Bretter zusammen, um ein Fahrgestell in I-Form mit Achsen zu bekommen, befestigten darauf eine Holzkiste als offenes Cockpit und zogen ein Stück Wäscheleine als eine Art Zügel vorn um die Räder, um den fahrbaren Untersatz lenken zu können. Angesichts ihrer Bauweise hatten die Karts natürlich ungefähr den Wendekreis eines Öltankers, und so fuhren wir die meiste Zeit geradeaus.
Der breite Weg hinter unserem Haus, der zwischen grasbewachsenen Gärten auf der einen und einem Maschendrahtzaun auf der anderen Seite verlief, war unsere „Rennstrecke“, und nur darum ging es, um das „Rennen“. Oft ließen wir zwei Go-Karts nebeneinander laufen: Tito schob Marlon, und ich schob Michael die fünfzig Meter lange Bahn entlang. Wichtig war der Wettstreit zwischen uns,