You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson. Jermaine Jackson
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Mit einem Freund und einem unserer Neffen nahm ich mir ein Quad, um die Ranch zu erkunden, die uns mit ihren über tausend Hektar Fläche riesig erschien. Grüne Hügel, mit Eichen bestanden, erstreckten sich bis weit in die Ferne. Eine staubige Schotterstraße führte uns abseits der bebauten Fläche auf ein Plateau, den höchsten Punkt des Geländes, der uns einen Rundumblick auf das ganze Anwesen bot. Meine Augen fingen alles ein – das Haus, den Freizeitpark, den See, das Riesenrad, die Züge, die Bepflanzung –, und Stolz und Ehrfurcht überwältigten mich. Sieh dir an, was du geschaffen hast, sagte ich zu meinem Bruder, erst im Geiste und dann, als ich zurück war, auch direkt.
„Einen Ort völligen Glücks“, erwiderte er.
Die verzerrte Darstellung von Neverland zeigt vor allem, dass Michael in den Medien nach dem äußeren Schein seiner Welt beurteilt wurde, und nach Hörensagen. Stets schien man ein grelles, oberflächliches Bild seiner Person und seiner Ranch zu zeichnen, ohne sich je die Mühe zu machen, nach dem komplexeren „Warum?“ zu fragen. Wie jeder andere Mensch war er durch seine Herkunft geprägt. Aber der Ruhm – und vor allem der Ikonenstatus, der meinem Bruder aufgedrückt wurde – errichte eine Barriere des öffentlichen Interesses um ihn und wirkte seinem Bedürfnis, verstanden zu werden, entgegen. Aber um ihn zu verstehen, müssen wir uns in ihn hineinversetzen und das Leben aus seinem Blickwinkel betrachten. Wie sagte Michael 2003 in einer Botschaft an seine Fans, die er von Ed Bradley von CBS übermitteln ließ: „Wenn man wirklich etwas über mich wissen will, dann sollte man sich einen meiner Songs anhören. Er heißt ‚Childhood‘ …“
Michael offenbarte in diesem Text, dass er sich durchaus bewusst war, ein erwachsener Mann mit der Wahrnehmung eines Kindes zu sein: „People say I’m strange that way because I love such elementary things … but have you seen my childhood?“ Damit wollte er sagen: So wurde ich geprägt. So bin ich.
Viele Menschen haben versucht, durch das Fenster unserer Kindheit zu spähen, hinter die Fassade der übermächtigen Pop-Ikone zu schauen und die Berichte verleumderischer Medien kritisch zu überprüfen. Aber ich habe das Gefühl, man muss es wirklich erlebt haben, um es zu begreifen und zu verstehen. Denn unsere Welt, wie wir in unserer großen Familie als Brüder und Schwestern unter einem Dach aufwuchsen, war einzigartig. Wir hatten ein kleines Haus in der Jackson Street – die nach dem Präsidenten Andrew Jackson benannt worden war, nicht nach uns –, und wir teilten Erinnerungen, Musik und einen Traum. Hier ist der Ausgangspunkt unserer Geschichten und seiner Texte, und hier, hoffe ich, kann man dem wahren Michael Jackson zumindest ein wenig auf die Spur kommen.
Alles fing damit an, dass wir eines Tages um die Spüle in der Küche herumstanden und unsere Stimmen entdeckten. Das Abwaschen, Abtrocknen und Einräumen wurde bei uns sozusagen wie am Fließband erledigt und war ein allabendliches Ritual nach dem Essen. Diese Arbeit wurde paarweise im wöchentlichen Wechsel übernommen: Zwei Kinder trockneten ab, zwei andere stellten das Geschirr weg, und unsere Mutter stand in der Mitte, eine Schürze über ihrem Kleid, die Hände tief im Seifenwasser. Ständig pfiff oder sang sie dabei Lieder, aber der Titel, bei dem wir zuerst mit einstimmten, war „Cotton Fields“, ein altes Sklavenlied, das der Bluesmusiker Lead Belly geschrieben hatte. Es war ein Hit, der Mutter sehr bewegte, denn ihre Wurzeln lagen in Eufaula, Alabama, wo sie im Mai 1930 als Katie Scruse zur Welt gekommen war.
Ihre Großeltern hatten damals im so genannten Baumwollstaat eine Baumwollfarm besessen; ihr Urgroßvater war Sklave der dort lebenden Familie Scruse gewesen. Auch ihre Vorfahren konnten singen: „Seine Stimme schallte aus der Kirche über das ganze Tal“, sagte Mutter von ihrem Großvater, und das Gleiche traf auf Papa Prince zu, ihren Vater. Mutter schwor, dass ihre Stimme, die wir in unserer Küche vernahmen, ein Erbe ihrer Vorfahren darstellte, das sie in einem Kirchenchor weiter ausgebildet hatte. Sie stammte aus einer Baptistenfamilie, und gute Stimmen hatte es dort schon immer gegeben. Der Vater meines Vaters, Samuel Jackson, war Lehrer und Schuldirektor, der eine notenreine Version von „Swing Low, Sweet Chariot“ vortragen konnte, aber im Kirchenchor auch durch eine „herrlich hohe Stimme“ auffiel. Unsere Mutter spielte während ihrer Schulzeit Klarinette und Klavier, Joseph Gitarre.
Als unsere Eltern sich 1949 kennenlernten, vereinte sich ihr jeweiliges Erbgut offenbar zu einer Art Super-Gen, was unsere musikalische Begabung betraf. Das war kein Zufall, wie unsere Mutter immer wieder betonte, es war die Gabe Gottes. Oder, wie Michael es später formulierte, „die göttliche Vereinigung von Musik und Tanz“.
Wir alle liebten den Klang von Mutters Stimme. Wenn sie an der Spüle stand, dann verlor sie sich in den Baumwollfeldern von Alabama, und mir liefen Schauer über den Rücken, wenn ich diese klangvolle Stimme hörte, die nie einen falschen Ton sang. Ob sie sprach oder sang, sie klang stets warm, weich und beruhigend. Wir fingen mit dem Singen an, um ein wenig Unterhaltung zu haben, als unser Fernseher zur Reparatur war, und eines Tages versuchte ich mich an ein paar Harmonien. Ich war etwa fünf Jahre alt, aber ich sang frei die zweite (hohe) Stimme, und das mit völlig reinem Ton. Mutter sah zu mir hinunter, sang weiter, aber lächelte mich ganz überrascht an. Und fast sofort fielen meine Brüder Tito und Jackie und meine Schwester Rebbie mit ein. Michael war noch ein Baby, trug Windeln und lernte gerade erst laufen, aber wenn das Geschirr wieder ordentlich weggestellt und alles fleckenlos sauber poliert worden war, setzte sich Mutter hin, nahm ihn auf den Arm und sang ihn in den Schlaf. „Cotton Fields“ war meine erste Gesangserfahrung und Michaels Schlaflied.
Meine erste Erinnerung an Michael stammt aus dieser Zeit. An seine Geburt oder daran, wie Mutter mit ihm nach Hause kam, erinnere ich mich nicht. Geburten waren in unserer Familie kein großes Ereignis. Ich war fünf, als ich Michael zum ersten Mal wickelte. Ich tat das, was wir alle taten – wir halfen Mutter, wo wir konnten, indem wir in unserer Familie, die später neun Kinder zählte, überall mit Hand anlegten.
Michael war von Geburt an ein Energiebündel voll ungezähmter Neugier. Wenn man ihn auch nur für eine Sekunde aus den Augen ließ, war er unter den Tisch oder unters Bett gekrabbelt. Wenn Mutter unser äußerst schlichtes Waschmaschinenmodell in Betrieb nahm, dann stand er davor und hüpfte im Einklang mit den rumpelnden Vibrationen auf der Stelle hin und her. Ihm auf dem Sofa die volle Windel zu wechseln, glich in etwa dem Versuch, einen nassen Fisch festzuhalten, der sich wand, zuckte und sich hin- und herdrehte. Eine Windel mit Sicherheitsnadeln ordentlich festzustecken war schon für einen Erwachsenen nicht einfach, und für mich als Fünfjährigen bedeutete es eine echte Herausforderung. Glücklicherweise sprangen Rebbie oder Jackie mir oft zur Seite. Michael hatte außergewöhnlich lange, dünne Finger, die meinen Daumen packten, und große Rehaugen, in denen zu lesen stand: „Es macht mir einen Riesenspaß, dir die Sache ein bisschen schwerzumachen, Kumpel.“ In meinen Augen war er aber vor allem der kleine Bruder, auf den man aufpassen musste. Uns allen war immer wieder eingeimpft worden, uns umeinander zu kümmern, aber für Michael fühlte ich mich vom ersten Tag an besonders verantwortlich. Vielleicht lag es daran, dass ich immer nur hörte, wie meine Mutter rief: „Wo ist Michael?“ – „Ist Michael nichts passiert?“ – „Hat jemand Michael gewickelt?“
„Ja, Mutter … Wir haben alles im Griff … er ist hier“, antwortete dann einer von uns.
Keine Sorge. Michael ist nichts passiert. Michael geht es gut.
Unsere Großmutter mütterlicherseits, Mama Martha, badete uns, als wir noch klein waren, in einer breiten Aluminiumschüssel voller Seifenwasser. Später sah ich dabei zu, wie Michael mit hochgereckten Armen und verkniffenem Gesicht in dieser kleinen „Badewanne“ stand und mit enormer Gründlichkeit von den Zehenzwischenräumen bis zu den Ohren ordentlich abgeseift wurde. Wir mussten immer sauber sein und uns vor Keimen in Acht nehmen. Ich glaube, das wurde uns eingebläut, noch bevor wir laufen oder sprechen konnten. Und für echte Sauberkeit