Black or White. Hanspeter Künzler

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Black or White - Hanspeter Künzler

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Morgen um fünf Minuten vor zehn Uhr ließ Joseph seine Leute auf dem Parkplatz von Motown der Größe nach in einer Reihe zur Inspektion antreten. Punkt zehn Uhr schritt er ihnen voraus durch die Eingangspforte. Der Mann, der sie in Empfang nahm, begrüßte sie – sie konnten es nicht glauben – alle mit Namen. Im Studio gesellte sich Ralph Seltzer zu ihnen. Nun mussten sie allerdings einen argen Dämpfer hinnehmen. Label-Gründer und -Präsident Berry Gordy werde, so wurde ihnen eröffnet, nicht persönlich anwesend war. Gordy verbrachte zu diesem Zeitpunkt bereits die meiste Zeit in Los Angeles, wo er alles daransetzte, für seine On-/Off-Freundin Diana Ross eine Filmkarriere einzufädeln. Joseph fühlte sich in seinem Stolz verletzt und wollte abmarschieren: Die Jacksons kämen zurück, wenn es Gordy besser passe. Er wurde zum Bleiben überredet. Die Vorspielprobe werde auf Film gebannt, damit Gordy die Resultate in Ruhe begutachten könne, die Entscheidung werde er zu gegebener Zeit mitteilen. Zum Start legte die Jackson 5 eine furiose Version des brandneuen James Brown-Hits „I Got the Feeling“ hin, wobei Michael die Manierismen von JB bis hin zum Ausruf „Good God almighty!“ perfekt kopierte. Keiner der anwesenden Motown-Angestellten applaudierte, jeder kritzelte im Notizbuch. Irritiert stürzten sich die Jacksons in den nächsten Song, bezeichnenderweise eine Version von „Tobacco Road“: Komponiert vom Country & Western-Songschreiber John D. Loudermilk, war das Lied vier Jahre zuvor von der englischen „Beat-Gruppe“ Nashville Teens in die amerikanischen Pop-Charts getragen worden. Die Wahl zeigt, wie weitgefächert das Repertoire der Jackson 5 sein konnte, und ist symptomatisch dafür, dass Motown nicht im Ruf stand, bloß „schwarze“ Musik schätzen zu können. Zum Abschluss konnten es sich die Jacksons nicht verkneifen, mit einer Interpretation von „Who’s Loving You“ des Motown-Haus-Komponisten Smokey Robinson zusätzliche Sympathie-Punkte zu sammeln. Die erwartete Begeisterung blieb aber aus. Seltzer erhob sich, sagte ohne eine Miene zu verziehen ein kurzes Dankeschön, versprach eine Antwort in zwei Tagen und ging von dannen. Über die Interstate 94 fuhren die Jacksons zurück nach Gary. Die Stimmung war gedrückt. Zu Hause warteten die Schulaufgaben. Aber drei Tage später saßen die Jacksons erneut im Büro von Motown Records in Detroit. Berry Gordy hatte sich das Schwarzweiß-Filmchen angeschaut und Seltzer mitgeteilt, es gelte, keine Sekunde zu verlieren, die Band müsse unter Vertrag genommen werden. Auch die Jacksons hatten keine Lust, lange zu fackeln. Nachdem Gordy per Telefon aus Los Angeles eingewilligt hatte, für einmal („nur einmal!“) eine Ausnahme zu machen und auf Joseph Jacksons Bedingung einzugehen, die Laufdauer des Vertrages auf ein Jahr statt der hausüblichen sieben Jahre zu beschränken, setzten alle beteiligten Jacksons ihre Unterschrift darunter – auch der Drummer Johnny Porter Jackson. Joseph unterschrieb einen weiteren Vertrag, der festhielt, dass er als Erziehungsberechtigter dafür verantwortlich sei, dass die minderjährige Band ihren Verpflichtungen nachkomme. Der erste Auftritt der Jackson 5 in ihrer Eigenschaft als frischgeschlüpfte Motown-Küken fand am 27. September 1968 im Gilroy Stadion in ihrer Heimatstadt Gary statt. An der Seite von Bobby Taylor & The Vancouvers, Gladys Knight & The Pips und Shorty Long nahmen sie an einer Benefiz-Veranstaltung zu Gunsten des Unterstützungs-Fonds für die Bürgermeisterwahl von Richard Hatcher teil. Der Legende nach soll Diana Ross die Jackson 5 bei dieser Veranstaltung entdeckt und Berry Gordy ans Herz gelegt haben. In Wahrheit war sie zu dem Zeitpunkt in Los Angeles und stritt – wie immer – mit den restlichen Supremes.

      Um die Tragweite des Erfolgs von Motown Records erkennen zu können, ist ein historischer Ausflug nötig. Der Vater von Motown-Gründer Berry Gordy Jr., Berry Gordy Sr., war ein rühriger Geschäftsmann. Als Sohn eines befreiten Sklaven (der wiederum Sohn einer schwarzen Sklavin und eines weißen Plantagenbesitzers war) hatte er einen kargen Flecken Land in Georgia übernommen. Zum Erstaunen der weißen Nachbarschaft schaffte er es, aus dem Verkauf eines Haufens Abfallholz ein kleines Vermögen zu befürchten. Weil er Angst haben musste, dass ihm die freundlichen Nachbarn den Scheck stehlen würden, reiste er nach Detroit, um ihn einzulösen – und blieb, wie viele andere schwarze Emigranten aus den Südstaaten, dort. Die ansässige Automobilindustrie – allen voran die Firma Ford – hatte zu den Ersten gehört, die bei der Einstellung von Arbeitskräften keinen Unterschied gemacht hatten zwischen weißer und schwarzer Hautfarbe. Der Civil Rights Act von 1875 sah zwar vor, dass jeder Amerikaner ungeachtet seiner Rasse und seines Status (etwa als vormaliger Sklave) ein Recht auf gleiche Behandlung an öffentlichen Orten und am Arbeitsplatz hatte. Dennoch gingen von den Südstaaten in der Folge starke Bemühungen aus, die Bewegungsfreiheit und das Mitspracherecht von Schwarzen (und Juden und armen Weißen) auf gesetzlicher Ebene erheblich einzuschränken. Die sogenannten Jim Crow-Gesetze wurden von den einzelnen Staaten separat eingeführt und nicht selten vom Ku Klux Klan mit illegalen Mitteln, die von den Sheriffs stillschweigend toleriert wurden, „verwaltet“. Unter dem aus Virginia stammenden Präsidenten Woodrow Wilson – er amtierte von 1913 bis 1921 – nahmen diese Bestrebungen auf nationaler Ebene noch zu. Auch Detroit blieb von den Jim Crow-Gesetzen und den daraus resultierenden Spannungen nicht verschont. 1943 kam es zu tagelangen Krawallen, nachdem weiße Arbeiter in Streik getreten waren, weil ihnen die Firma Packard schwarze Arbeiter an die Seite stellen wollte. 34 Menschen wurden bei den Ausschreitungen getötet. Berry Gordy Jr. war vierzehn Jahre alt.

      Es bedurfte vieler einzelner Vorstöße von Menschenrechtskämpfern, Gewerkschaften und ähnlichen Organisationen, um über die 40er und 50er Jahre hinweg einen Bundesstaat nach dem anderen zu zwingen, ein Segregationsgesetz nach dem anderen aufzuheben – was allerdings mancherorts nur dazu führte, dass der offene Rassismus hinter vorgehaltener Hand (oder brutal in einem einsamen Straßenpark) weiterging. Erst im Juli 1964 veranlasste Präsident Johnson die endgültige Abschaffung aller Jim Crow-Gesetze. Ein Jahr später setzte er es über den Kopf der Südstaaten hinweg auch noch durch, dass künftig wirklich jeder Amerikaner das Wahlrecht hatte. Noch im Jahr 1967 rief der Film „Guess Who’s Coming to Dinner?“, in dem es um eine gemischtrassige Ehe ging, heftige Proteste auf den Plan.

      Die Gordys hielten sich von politischen und sozialen Konflikten fern. Im Mittelpunkt stand für sie die Familie und ihr Wohl. Berry Gordy Sr. hatte in Detroit als Straßenhändler angefangen und eine Lehre als Pflasterer gemacht. Dabei sparte er genug Geld, um eine Zimmerei, einen Lebensmittelladen und schließlich auch noch eine kleine Druckerei zu kaufen. Mit Bertha Gordy, der Mutter von Berry Gordy Jr., heiratete er eine bemerkenswerte Frau. Sie zog acht Kinder auf, absolvierte daneben ein Wirtschaftsstudium und gehörte zu den drei Gründerinnen einer Versicherungsgesellschaft für die Bewohner der „schwarzen“ Quartiere (sprich: Stadtteile, in denen es Schwarzen vom Gesetz her nicht zu wohnen verboten war) von Detroit. Alle anderen Gordys halfen in der Folge kräftig mit in den diversen Familienbetrieben – außer den jüngsten Söhnen, Robert und Berry Jr. Diese waren unverbesserliche Faulpelze und Hochstapler, die in der Schule nichts bis gar nichts taten. Wie Joseph Jackson kehrte Berry der Schulbank vorzeitig – und zum Schrecken der Eltern – den Rücken, um sich als Profi-Boxer zu verdingen. Im Alter von zwanzig Jahren konnte er auf eine nicht schlechte, aber auch nicht besonders gute Karriere zurückblicken: von neunzehn Kämpfen hatte er dreizehn gewonnen. Das ständige Training passte indessen auch nicht zu seinem Naturel. Nun richtete er sich im Hinterzimmer der väterlichen Druckerei ein, um Songs zu schreiben (der Vater war froh, dass der Querschläger überhaupt etwas tat). Ohne dabei irgendwie aufzufallen leistete er seinen Militärdienst in Korea ab (er behauptet seither, perfekt Koreanisch zu sprechen). Zurück in Detroit vermochte er seinen Bruder George dazu zu überreden, sich an einem Plattenladen zu beteiligten. Er setzte alles daran, seine Kundschaft zum Genuss von Jazz im Stil von Charlie Parker und Miles Davis zu überreden, aber in der schwarzen Arbeiterszene zählte bloß Rhythm & Blues. Mit der Zeit fand auch er Gefallen an den ihm solchermaßen aufgezwungenen Fats Domino, Jimmy Reed und Ray Charles – und an einer gewissen Thelma Coleman, die er alsbald ehelichte. Der Laden vermochte sich nicht über Wasser zu halten. Berry Jr. – unterdessen Vater einer Tochter namens Hazel und zweier Söhne – strauchelte von Job zu Job, die ihm nicht selten von den Schwiegereltern vermittelt worden waren. Einmal war ihm die Arbeit zu dreckig, ein anderes Mal zu langweilig, und überhaupt: Was interessierte ihn Staub, Krach und Schweiß, wenn Wein, Weib, Gesang und die neueste Herrenmode in der Luft lagen? Die Familie überlebte, weil die Gordys ihm mietfrei eine Wohnung überließen. Immerhin war die Zweitkarriere von Berry Jr. als Glücksspieler erstaunlich profitabel. Mit dem Geld kaufte sich der klassische „Hustler“-Typ auffällige Anzüge und ließ sich

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