Kranichtod. Thomas L. Viernau
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kranichtod - Thomas L. Viernau страница 20
Ein spitzer Schrei ließ die fünf Personen zeitgleich aufschauen. Auf der Treppe stand wachsbleich eine mittelgroße, brünette Frau, die man in Modekreisen als vollschlank bezeichnen würde. Ihre Augen waren weit aufgerissen und blickten angstvoll auf den zu Boden gegangenen alten Herrn. »Papa!«, rief sie, »Papa, was ist mit dir?«
Ein riesiger Hund tapste die Treppe neben ihr herunter, lief schwanzwedelnd zu seinem Herrchen und schleckte mit seiner großen Zunge dessen Gesicht ab. Mit einem Stöhnen schien der alte Baron sich wieder im Leben zu melden. Er schlug die Augen auf, sah die besorgten Gesichter und auch das vor Schrecken kreideweiße Gesicht seiner Tochter Clara-Louise. Mit schwacher Hand schob er den großen Hund etwas beiseite: »Is ja gut, is ja gut ... Klärchen, es ist was Schreckliches ..., also, Irmchen, die ist ..., ein Unfall ..., ach Gott!«
Er rang sichtlich nach Worten, um diese schlimme Nachricht irgendwie auch für sich selbst begreifbar zu machen. »Kann ich einen Schluck Wasser ...?«
Die junge Polizistin nickte und rannte los. Clara-Louise rief ihr hinterher: »Den Gang bis nach hinten, dann rechts, da ist die Küche.«
III
Gut Lankenhorst
Montag, 23. Oktober 2006
Das Gutshaus hatte sich mit Menschen gefüllt. Kurz hintereinander trafen die Autos von Lutger von Quappendorff, dem Bankier Hülpenbecker und von Wolfgang Hopf auf dem großen Hof vor dem alten Prachtbau ein. Auch die Bewohner des Hauses waren inzwischen alle wach und rannten scheinbar ziellos herum.
Der unscheinbare Rolfbert Leuchtenbein hatte sich an die vollkommen aufgescheuchte Gunhild Praskowiak gehängt und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Die Todesnachricht hatte sich in Blitzesschnelle herumgesprochen und eine allgemeine Bestürzung hervorgerufen.
Leuchtenbein redete leise ohne Unterbrechung auf Gunhild Praskowiak ein. Die stand bloß da und nickte fortdauernd. Hülpenbecker trat auf die beiden zu und hüstelte höflich. So richtig konnte er mit der Situation auch nicht umgehen. In dem großen Sessel am Fenster saß Lutger von Quappendorff und stierte in den Park hinaus. Die vollkommen aufgelöste Clara-Louise saß am Tisch und weinte leise vor sich hin. Hopf kümmerte sich um seinen Schwiegervater, der inzwischen wieder bei Kräften war und vollkommen apathisch das Glas Wasser in seinen Händen hielt.
Die unheimliche Spukerscheinung hatte ihre Entsprechung in der Realwelt gefunden. Als ob der alte Mann durch die ominösen Vorgänge der vergangenen Nacht schon auf diese traurige Nachricht eingestimmt werden sollte.
Er wiegte den Kopf. Mit wem sollte er sich über diese Dinge unterhalten? Man würde ihn nicht mehr ernst nehmen oder sogar milde belächeln. Der Baron begann zu grübeln.
Was ging da vor sich?
Hatte der Tod Irmis etwas mit den toten Vögeln zu tun?
Wieso kam auf einmal die Weiße Frau zurück?
Was hatte das alles mit seinem Projekt zu tun?
Etwas ratlos wandte er sich seinem Hund Brutus zu. Der schaute mit seinen großen braunen Knöpfchenaugen auf sein Herrchen. »Ach, Brutus. Jetzt müssen wir mal schauen, wie wir hier durch kommen.«
Verständnisvoll wedelte der große Vierbeiner mit seinem buschigen Schwanz. Er spürte, dass sein Herrchen etwas mehr an Zuwendung brauchte.
Unverhoffte Entwicklungen
Etwas Wissenswertes über Kraniche
Der erste lateinische Name der Kraniche lautete »Ardea Grus«. Carl von Linné hatte ihnen diesen Namen zugeteilt. Der ließ sich dabei wohl von dem lateinischen Wort »Grus« inspirieren, das wohl eine Verkürzung des altgriechischen »Geranos« ist. Die alten Hellenen hatten für ihre Theateraufführungen solche »Geranoi« als Hebevorrichtungen für Kulissen konstruiert. Mit ihren langen Hälsen waren sie den großen Federtieren nicht ganz unähnlich.
Der spanische Gelehrte Isidor von Sevilla schlug vor, den Wortstamm auf das lateinische Verb »congruere«, das »übereinstimmen« heißt, zurückzuführen. In den romanischen Sprachen wird der Kranich dementsprechend auch als »Grulla« (spanisch), »Gru« (italienisch) und als »Grue« (französisch) bezeichnet. Der deutsche Name wird aus dem altgermanischen »Kranch« abgeleitet. Hier steckt auch wieder das schöne Wort »Kran« mit darin. Im Englischen ist das Wort für den großen Vogel ähnlich:»Crane«. Jeder kennt die großen rotschimmernden Moosbeeren, die im angloamerikanischen Sprachraum als »Cranberries« bekannt sind. Sie gehören zu der Lieblingsnahrung der Kraniche. In der neueren Ornithologie hat sich übrigens die Bezeichnung »Grus Grus« für den bei uns heimischen Graukranich durchgesetzt.
I
Potsdam
Montag, 23. Oktober 2006
Linthdorfs Wochenbeginn war stets eine Qual. Speziell nach einem langen Wochenende fiel es dem großen Mann besonders schwer, sich früh um sechs aus dem Bett zu quälen, das Bad zu suchen und den Tag in eine geordnete Struktur zu zwingen. Meist musste er in solchen Momenten an einen amerikanischen Film denken, der vor knapp zwanzig Jahren in den Kinos lief. Ein Reporter erlebte darin immer wieder ein und denselben Tag. In Erinnerung an diese lustige Filmkomödie nannte Linthdorf solche Tage wie diesen ebenfalls Murmeltiertag.
Also, dieser Montag begann auf alle Fälle wie einer dieser berüchtigten Murmeltiertage.
Die Fahrt nach Potsdam in der S-Bahn war auch wieder so ein typischer Horrortrip. Mit großer Verwunderung stellte Linthdorf fest, dass ihn die Menschenmassen, die früh und abends in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln unterwegs waren, nervten. Nie hatte er bisher ein Problem mit seinen Mitmenschen gehabt. Er kannte keinerlei Berührungsängste und galt auch nicht als schüchtern. Aber diese aggressive Lust der Leute am Drängeln und Schieben, so als ob sie zu kurz kämen bei den großen Kämpfen des Alltags, trat besonders zu den Stoßzeiten offen zu Tage.
Linthdorf beobachtete diese Entwicklung nun schon seit geraumer Zeit mit wachsendem Unmut. Höflichkeit oder wenigstens etwas Zurückhaltung waren schon lange nicht mehr maßgeblich beim Kampf um die freien Plätze. Rücksichtsloser Einsatz von Ellenbogen und anderen Körperteilen hingegen war zur Regel geworden.
Eigentlich brachte den Kommissar nicht aus der Ruhe. Er war immerhin stattliche 204 Zentimeter groß und auch sonst kein Strich in der Natur. Aber was da so in Schulterhöhe um ihn herum wimmelte, ließ ein ungutes Gefühl von körperlicher Ohnmacht in ihm aufsteigen. Man wurde automatisch mitgerissen von einem aufgescheuchten Wespenschwarm, begann sich plötzlich selbst wie eine Wespe, in Linthdorfs Fall, eher wie eine Hornisse, zu fühlen und verteilte ab und an ebenfalls nun kleine Ellenbogenkicks oder setzte seine Füße aktiv bei der Raumgewinnung mit ein.
Etwas zerknautscht erreichte Linthdorf auch an diesem Montag sein Ziel. Die Skyline von Potsdam war an diesem nebligen Oktobermorgen nur zu erahnen. Die runde Kuppel der Nikolaikirche schimmerte inmitten der vielen Quader der zahlreichen Plattenbautürme. Die Wasserflächen der Havelseen lagen versteckt unter einer dicken Nebelschicht. Erstaunlich war, dass viele Bäume noch ihr Blätterkleid hatten.