Arkadiertod. Thomas L. Viernau
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den kühlen Platz am Teich noch stets im Sinn.
Ob sie je kam?
Ich sah sie wohl nie lächeln.
Wie Lotos blüht mir auf das Wort: dahin.
Qi Bai Xi 1935
II
Berlin, Friedrichshain
Sonntag, 24. Dezember 2006
Heiligabend! Aus dem Radio dudelte heiter Besinnliches. Linthdorf saß in seiner Küche und knabberte eine Möhre. Neben ihm auf dem zweiten Küchenstuhl hatte es sich seine buntgescheckte Katze gemütlich gemacht. Sie beobachtete ihren großen Gönner aufmerksam, immer darauf hoffend, etwas Nahrhaftes oder Wohlschmeckendes vom großen Tisch abzubekommen.
Ein Blick auf die Uhr genügte.
Linthdorf lehnte sich entspannt zurück. Es war erst halb Neun. Draußen dämmerte der Tag vorsichtig heran. Ein Blick aus dem Fenster reichte aus, um die Stimmung zu dämpfen. Nein, auch dieses Jahr wollte es nicht so richtig klappen mit der weißen Weihnacht. Bleigrau präsentierte sich der Tag. Das heiter besinnliche Musikprogramm im Radio wechselte in ein süßlich-kitschiges Geplärre. Entnervt drückte Linthdorf die Austaste. Just in diesem Moment ertönte ein vertrautes Klingelzeichen.
Missmutig trollte er sich Richtung Flur. Maunzend folgte ihm die Katze. Das Klingelgeräusch ertönte aus der Garderobe. Dort hing Linthdorfs Mantel. Endlich hatte er das Handy aus der Innentasche des Mantels hervorgeholt, das Klingeln war inzwischen verstummt. Ein Blick auf das Display genügte, um Linthdorfs Stimmung vollständig auf null zu fahren.
Es war seine Dienststelle in Potsdam. Eigentlich hatte er noch frei. Seit drei Wochen war er im Urlaub, besser gesagt: er bummelte Überstunden ab. Dank des letzten Falls hatten sich so viele Überstunden angesammelt, dass Linthdorf noch bis in die erste Januarwoche des nächsten Jahres frei hatte. Auch ein paar Tage Resturlaub konnte er mit anhängen.
Sein Posten als Leiter einer temporären Sonderkommission war ausgelaufen. Die SoKo löste sich wieder auf. Steuerfahnder, Computerexperten und Kriminalisten, die allesamt in dieser SoKo tätig waren, hatten genug Material, um damit für Monate die Auswertung voranzutreiben.
Linthdorf zögerte einen Moment, bevor er die Rückruftaste drückte. Er ahnte, dass sein Urlaub wahrscheinlich vorzeitig beendet sein würde. Aber vielleicht war es ja gut, den Kopf mit etwas Anderem zu füllen als dieses ständige Hoffen und Harren an Louises Krankenbett.
Aus dem kleinen Gerät ertönte eine leicht gereizte Stimme. Nun war es zu spät. Linthdorf räusperte sich und nannte seinen Namen.
Es war Nägelein, genauer Kriminaloberrat Dr. Nägelein, Dienststellenleiter und direkter Vorgesetzter Linthdorfs.
»Sagen Sie mal Lintdorf, wie lange haben Sie denn noch Urlaub? Wir backen hier im Moment ganz kleine Brötchen! Alles meldet sich zum Weihnachtsurlaub ab, trifft irgendwelche lang verschollene Onkel und Tanten und hat schon lange vorab Reisen in die Alpen oder an die Ostsee gebucht. Ich sitze hier fast ganz allein herum!!!«
»Frohe Weihnachten, Chef. Wo brennt’s denn?«
»Haha, frohe Weihnachten!!! Ihren Humor möchte ich einmal haben! Überall brennt es! Überall!!!«
»Herr Doktor Nägelein, Sie haben mich doch nicht wegen dieser lapidaren Nachricht am Heiligabend angeklingelt. Also, was ist denn so dringend …«
Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Ein Wortschwall folgte, dem Linthdorf nur wenig Konstruktives entnehmen konnte. Das rheinische Temperament seines Chefs war wieder einmal mit ihm durchgegangen.
Linthdorf waren die Wortkaskaden schon vertraut. Das Wortgewitter war vorüber. Es ging um einen Todesfall in einem Obstgroßlager.
Man hatte in einer Apfelmiete eine Leiche gefunden. Die Umstände des Auffindens und die Bekleidung der Leiche hatten bei der herbeigerufenen Streifenpolizei Alarm ausgelöst. Die Kollegen riefen umgehend beim LKA an. Nägelein hatte sich bereits auf ein beschauliches Weihnachtsfest eingestimmt, als ihn der Anruf erreichte. Außer ihm und der Sekretärin war die Dienststelle nicht besetzt. Nägelein selbst hatte schon seit Jahren keinen Außeneinsatz mehr geführt und die arme Sekretärin wäre wohl deutlich überfordert mit so einem Leichenfund …
Linthdorf atmete tief durch. Das war’s! Er würde diese undankbare Aufgabe wohl oder übel übernehmen müssen.
»Wo ist das Ganze denn passiert?«
»Mensch, Linthdorf! Das vergesse ich Ihnen nicht, dass Sie mir aus der Patsche helfen.«, Nägeleins Stimme bekam jetzt sogar einen freundlichen Klang.
»Ja, also draußen in Werder. Werder an der Havel. Kennse doch! Ach, wieso erkläre ich das überhaupt. Fahrnse einfach los. Ich schick Ihnen alles Wichtige per SMS rüber.« Dann legt er auf.
Linthdorf schüttelte nur den Kopf. Er hatte seine Probleme mit dieser Art der Kommunikation, aber letztendlich blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich mit Nägelein halbwegs zu arrangieren. Immerhin war er sein Chef.
Es war inzwischen halb Zehn geworden. Wenn er Glück hatte, war die gesamte Tatortbesichtigung mitsamt Zeugenbefragung vor Ort bis zum Nachmittag gelaufen und er konnte sich der Bescherung bei seinen beiden Söhnen widmen. Er überlegte noch kurz, ob er sie anrufen sollte.
Immerhin, es könnte ja später werden. Aber dann entschied er sich, erst einmal loszufahren. Vom Friedrichshain brauchte er eine knappe Stunde bis Werder.
Heute war bestimmt wenig Verkehr, da alle Berliner sich schon auf den Heiligabend vorbereiteten.
»Mieze, ich muss los! Benimm dich ordentlich und lass keinen rein. Ist das klar? Auch keine Pakete annehmen und nicht sinnlos durchs Fernsehprogramm zappen!«
Damit verließ er die verdutzt dreinschauende Katze, die während des ganzen Telefonats vor ihm saß und ab und an ein Miau von sich gab.
Das preußische Arkadien …
ist eigentlich keine geographisch exakt festgelegte Region. Mit etwas Fantasie könnte man die Gegend rings um Potsdam, entlang der Havel bis hinein nach Berlin dazu zählen.
Die arkadischen Gefilde sind wie kleine Inseln in die brandenburgische Landschaft eingebettet. All diese Schlösser, Paläste und Parks wurden von den ehrgeizigen Hohenzollern und ihren genialen Bau- und Gartenmeistern erschaffen.
Fast dreihundert Jahre hat es gedauert, bis sich die märkischen Sumpfwiesen in elysische Parkauen verwandelten. Wer heute diese Gegend an der Unterhavel besucht, bekommt eine ziemlich genaue Vorstellung, warum diese einmalige Kulturlandschaft das preußische Arkadien genannt wird.
III
Phöben bei Werder/Havel
Sonntag, 24. Dezember 2006
Nägelein