Arkadiertod. Thomas L. Viernau
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Die Havel hatte sich hier an der Grenze zur Millionenstadt Berlin zu einem kleinen See verbreitert, dem der schöne Name Jungfernsee verliehen worden war. Direkt gegenüber konnte er die Bauten von Park Glienicke beobachten. Das Casino, die Große Neugierde und das Hofgärtnerhaus leuchteten aus dem dunklen Park hervor. Dort war er ebenfalls oft unterwegs.
Schaute er schräg nach vorn, sah er den Campanile der Sacrower Heilandskirche. Jetzt im Winter konnte man sogar das Gutshaus erkennen, das im Sommer immer hinter dem Blattwerk der Parkbäume verborgen blieb.
Direkt vor ihm hatte er einen Blick auf die Alte Meierei. Da gab es inzwischen wieder eine vorzügliche Gaststätte mit Seeterrasse und Bootsanleger. Weiter entfernt am Horizont ragte der Fernsehturm vom Schäferberg in den grauen Himmel.
Blickte er zurück zur Glienicker Brücke, konnte er Schloss Babelsberg auf einer kleinen Anhöhe erkennen. Kurz vor dem Nedlitz-Durchstich tauchte auch die Pfaueninsel am Horizont auf. Das kleine Schlösschen auf der Insel strahlte reinweiß über den See. Linthdorf musste jedes Mal lächeln, wenn er es sah. Es war ein potemkinsches Vehikel. Die imposante Fassade war eine Verblendung aus Holz. Das eigentliche Gebäude war nur ein kleiner, einfacher Bau.
Er liebte diese Gegend mit den vielen Prachtbauten, die wie an einer Perlenkette das Havelufer säumten. Zumal ihm hier kaum Leute begegneten. Nur die Flattertiere, so nannte er die Wasservögel, waren seine treuen Begleiter. Beim Laufen am Ufer konnte er seinen Gedanken nachhängen.
Die letzte Großaktion, die er mit der SoKo »Kranichtod« anleitete, hatte tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen. Da war vor allem die Jagd nach den drei Drahtziehern des ausgefeilten Betrugsnetzwerks in den verlassenen Bauten von Bogensee, die mit dem Auffinden seiner leblosen Kollegin Louise Elverdink in den Kellergewölben endete. Sie lag da unten schon wer weiß wie lange ohne Bewusstsein.
Keiner konnte ihm sagen, was genau passiert war. Die drei Hauptschuldigen schwiegen. Linthdorf spürte längst schon mehr als nur kollegiale Freundschaftsgefühle für die Kriminalistin. Sie waren sich näher gekommen bei der Suche nach den verschwundenen Steuergeldern und der Jagd auf die Mörder im Hause Lankenhorst.
Louise lag seit diesen Vorgängen im Nebel von Bogensee in einem hoffnungslosen Komazustand.
Endlich entdeckte Linthdorf eine größere Ansammlung von gefiederten Wasserbewohnern. Sein Baumwollbeutel war prall gefüllt mit Brotresten aus der Kantine, die er dort von der Köchin bekommen hatte. Sie war gestern seine einzige Gesprächspartnerin. Er hatte sich mit ihr fast anderthalb Stunden angeregt bei mehreren Gläsern Glühwein unterhalten. Sie war überrascht über die Vorliebe des stets freundlichen Kriminalisten für einsame Havelspaziergänge. Linthdorf war froh, mit jemanden über die inzwischen schon ein paar Wochen zurückliegenden Ereignisse sprechen zu können.
Die Köchin war eine lebenskluge Frau. Sie spürte, dass sich ihr Gesprächspartner in einem trostlosen Dilemma befand. Linthdorfs aufkeimende Liebe zu der Kollegin aus dem fernen Brandenburg/Havel hatte wenige Zukunftschancen. Sie ahnte es.
Er verdrängte den Gedanken.
Was wäre, wenn Louise nicht mehr aufwachen würde? Oder wenn sie aufwachen würde und ihn nicht mehr erkannte?
Oftmals war ein solcher Komazustand mit Gedächtnisverlust verbunden. Manchmal verfielen Komapatienten nach ihrem Aufwachen in einen traumatischen Seelenzustand, vergleichbar einer großen Depression.
Linthdorf wusste um diese ganzen Unwägbarkeiten. Wie an einem seidenen Faden hing seit Wochen nun schon sein kleines, privates Glück. Der Faden zum Zerreißen gespannt, und er, Linthdorf, konnte diese Spannung kaum noch ertragen. Das bisschen Glück, das er zum Greifen nahe spürte, entschwand, löste sich auf in einem diffusen Nebel.
Der Köchin, die er nur von seinen Kantinenbesuchen oberflächlich kannte, schüttete er jetzt an diesem tristen Weihnachtsfeiertag sein Herz aus. Es war eine Zentnerlast, die ihm wenigstens für kurze Zeit von der Seele fiel.
Zum Abschluss gab sie ihm noch den Tipp, seiner Louise doch mal etwas Musik vorzuspielen. Wenn schon keine direkte Verbindung zu ihr möglich sei, über Melodien würde das Unterbewusstsein vielleicht angeregt … Man habe ja schon von kleinen Wundern gehört.
Linthdorf musste lächeln, wenn er an diesen Ratschlag dachte. Ja, darauf hätte er auch selber schon kommen können.
Der Brotbeutel war fast leer. Seine Flattertiere waren erstaunlicherweise immer noch hungrig. So viel Hingabe hatte er nicht erwartet. Sie schauten ihn aus ihren kleinen runden Knöpfchenaugen fragend an. War das etwa schon alles?
»Jungs, das war’s. Morgen komm‘ ich wieder. Dann gibt’s mehr. So, nun flattert mal wieder los.«
Die Wasservögel paddelten aufgeregt vor ihm im dunklen Havelwasser. Linthdorf setzte seinen Spaziergang fort. Langsam kroch die nasse Dezemberkälte in ihm aufwärts.
Ja, die Idee mit der Musik, da wollte er unbedingt etwas ausprobieren. Er hatte mit Louise öfters Musik gehört, meist beim Autofahren.
Sie mochte Jazz, das hatte sie ihm einmal erzählt. Es gab einen Radiosender, der sich dem Jazz verschrieben hatte: Jazzradio. Linthdorf kannte den Sender. Er lag direkt neben seinem Lieblingskanal, Klassik-Radio. Manchmal, wenn zu viel Kommerz zwischen den Musikstücken hervorquoll, schnappte Linthdorf rüber ins Jazzradio. Die sparsame Moderation und die meist zeitlosen Klänge des Free Jazz waren für ihn ein angenehmes Kontrastprogramm zu Beethoven, Dvorak, Strawinsky und Ravel. Er wollte ein paar CDs zusammenstellen mit gutem Jazz und einen Player mit ins Krankenzimmer bringen. Vielleicht kamen die Klänge durch zu ihrem Innersten.
Linthdorf hatte die alte Matrosenstation Kongsnaes passiert, besser gesagt, die Stelle, an der sie früher mal war. Vor fünf Jahren hatte ein nach der Wende entstandener Förderverein den Torbogen wiedererrichtet. Neben den drei Wohnhäusern der ehemaligen Matrosenmannschaften war der Torbogen im Moment das einzige, was auf die kaiserliche Bootsstation hinwies. Die Gebäude waren allesamt im norwegischen Drachenstil erbaut worden, einer Mischung aus Alpenhütten und Wikingerbauten. Dunkles Holz in Blockbauweise gezimmert, hell abgesetzte Fenster, feine Verzierungen, die an nordische Sagen erinnerten.
In einem der Heftchen der Arkadischen Gesellschaft hatte Linthdorf gelesen, dass es in diesem Jahr eine erneute Ausschreibung zur Wiederherstellung der Matrosenstation gegeben hatte. Auch die beiden kaiserlichen Salondampfer, die Dampfyacht »Alexandria« und die Minifregatte »Royal Louise« kreuzten als Nachbau wieder auf dem Jungfernsee und dessen Nachbargewässern.
Irgendwann sollten die große Vente-Halle und der Bootsschuppen wieder erbaut werden. Das ganze Gebäudeensemble gehörte jetzt schon zum UNESCO-Weltkulturerbe der Berlin-Potsdamer Park-und Schlösserlandschaft, ebenso die Villa Schöningen, die am vorderen Ende der Schwanenallee noch im Dornröschenschlaf vor sich hindämmerte und auf ihre Wiedergeburt wartete.
Linthdorf bog über das kleine Brückchen am Nedlitz-Durchstich in den Neuen Garten ein.
Das Wetter hatte sich verschlechtert. Nieselregen und heftige Windböen konnten ihm jedoch nichts anhaben. Er stapfte mit dem stoischen Gleichmut einer Maschine durch den Park. Das Laufen half ihm, die weihnachtliche, depressive Phase zu überstehen.
Glücklicherweise erinnerte im Neuen Garten nicht viel an Weihnachten. Er folgte dem kleinen Pfad, der am Ufer des Heiligen Sees zum Marmorpalais führte. Auf dem Weg sinnierte