Mischpoche. Andreas Pittler
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Wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Gerade einmal eineinhalb Jahrzehnte war es her, dass alle politischen Kräfte voller Enthusiasmus die Republik begrüßt hatten. Mehr noch als Staatsoberhaupt und Regierung war das Parlament die Zierde des neuen Staates. Und jetzt sollte das alles nicht mehr zählen? Hatten denn alle vergessen, wie schwer Rote und auch Schwarze seinerzeit um das Recht gerungen hatten, im Hohen Hause mitwirken zu dürfen, damit dieses eine wahre Volksvertretung werde? Nicht nur die Begründer der Sozialdemokratie, auch ihre heutigen Gegner, die Christlich-Sozialen, waren einst Verfemte gewesen. Sollte diese Erfahrung die beiden Lager nicht weit eher einen als trennen? Und sah man nicht gerade in diesen Tagen in Deutschland, wohin solcher Parteienhader führte? Ob er sich nicht doch besser krank melden sollte?
»Auf geht’s!« Zu Bronsteins großer Überraschung hatte sich Steinhäusl höchstselbst in der Kantine eingefunden, um alle ihm zugeteilten Beamten persönlich einzusammeln. Bronstein rang noch einen kleinen Moment mit sich, ob er sich der Einberufung widersetzen sollte, doch als er sah, wie Dutzende andere Kriminalbeamte wortlos aufstanden und dem Leiter des Sicherheitsbüros willig folgten, da war es auch um seinen Mut geschehen. Umständlich tupfte er seinen Mund mit der Serviette ab, dann nickte er Cerny mit trauriger Miene zu, ehe er sich dem Zug der Steinhäusl-Kompanie anschloss.
Als sie die Treppen zum Ring hinuntermarschierten, überschlug er die Zahl der hier eingesetzten Kollegen und kam auf knapp hundert Mann, die sich nach rechts wandten, um über die Währinger Straße zur Universität zu gelangen. Gleich danach passierte der Trupp den Rathauspark, und schon kam das Parlament ins Blickfeld. Tatsächlich wehten vor den Toren die Fahnen, die das Abhalten einer Sitzung signalisierten, und Bronstein fragte sich, ob sich wirklich Deputierte in den Hallen finden würden. Über die Rampe zog der Zug der Kriminalisten in die Säulenhalle ein und wandte sich dort nach links, um zum Sitzungssaal des Nationalrates zu gelangen. Instinktiv griff Bronstein nach seiner Taschenuhr. Zwei Minuten nach zwei Uhr nachmittags.
Gedämpfter Lärm drang durch den schmalen Gang, und unwillkürlich sah Bronstein auf. Tatsächlich, eine namhafte Gruppe von Mandataren schickte sich eben an, den Plenarraum zu betreten. Steinhäusl hatte in der Zwischenzeit die Hälfte seiner Leute diverse Ausgänge besetzen lassen und befahl einem weiteren Dutzend, in der Säulenhalle Aufstellung zu nehmen. Mit gut 30 Kollegen sah sich Bronstein nun vor der großen Türe zum Präsidium stehen, die weit offen stand. Er schob sich an einigen Beamten vorbei und warf einen Blick in das Plenarrund. Die Reihen der Roten waren fast vollzählig gefüllt, und auch auf der rechten Seite blieb kaum ein Stuhl leer. Steinhäusl gab hektisch diverse Befehle, während sich Bronstein an den Türrahmen lehnte. Direkt unter seinen Augen huschte ein Mann vorbei, in dem er den Abgeordneten Forstner erkannte. Freundlich nickend zwinkerte er ihm zu, wobei er ansatzweise mit den Schultern zuckte. Forster, der seinerseits Bronstein erkannte, erwiderte die Geste und sah zu, dass er zu seinem Sitzplatz kam. Plötzlich öffnete sich die Pforte zum ehemaligen Speisesaal, und Bronstein wurde der Abgeordneten Gabriele Proft ansichtig. Mit einer galanten Bewegung seiner rechten Hand ließ er auch sie durch. Just in diesem Augenblick, die Proft nahm gerade die letzte Stufe hinab zur Rostra, fiel Steinhäusl auf, was hinter seinem Rücken vorgegangen war.
»Sind Sie komplett verblödet, Mann? Wir sollen die Sitzung verhindern, nicht ermöglichen!« Bronstein bemühte sich um einen dämlichen Gesichtsausdruck und zuckte abermals mit den Schultern. Steinhäusl setzte zu einem Schreianfall an, doch Bronstein nickte über dessen Kopf hinweg in Richtung des Ganges. Dort kamen der Wiener Bürgermeister und einer seiner Stadträte herbeigeeilt.
»Halt! Hier gibt es kein Durchkommen!«, belferte Steinhäusl und verhinderte, dass Seitz mit seinem Kompagnon in den Saal gelangte.
»Junger Mann, ich war schon unter dem Kurienwahlrecht Abgeordneter. Da werd’ ich mir jetzt nicht den Zutritt zum Plenum verbieten lassen«, entgegnete Seitz mit nasalem Schönbrunner Deutsch und schickte sich an, Steinhäusl zu passieren. Steinhäusl, der fünf Tage zuvor feuchtfröhlich seinen 54. Geburtstag gefeiert hatte, blieb die Luft weg. »Was … erlauben Sie … sich?« Er trat eilig drei Schritte zurück, um sich Seitz erneut in den Weg stellen zu können. »Das hier ist eine … untersagte Kundgebung. Sie … dürfen nicht …!«
»Wer sagt das?«
Automatisch zückte Steinhäusl die schriftliche Weisung, die Brandl von Dollfuß erhalten und an Steinhäusl weitergereicht hatte. Wie selbstverständlich nahm sie Seitz an sich, betrachtete sie kurz und meinte dann: »Sehr schön. Das geb ich dem Präsidenten! Das wird Folgen haben, mein Lieber. Darauf können S’ Gift nehmen!« Sprach’s und ließ den entgeisterten Steinhäusl stehen. Der brauchte einige Atemzüge, bis er sich wieder gefangen hatte. »Rote … Judensau!«, brüllte er.
»Entschuldigung, Herr Hofrat«, mischte sich Bronstein ein, »der Seitz, der ist kein Jude!«
»Wer a Jud’ ist, bestimm’ i.«
»Lueger.«
»Wos?« Abermals war Steinhäusl verwirrt.
»Das hat der Lueger g’sagt. Das mit dem Juden.«
Erneut schnappte Steinhäusl nach Luft. Für einige Sekunden wirkte er wie ein Fisch auf dem Trockenen, so hektisch öffnete und schloss sich sein Mund. »Aus meinen Augen … Sie … Missgeburt!«, schrie er so laut, dass die anderen Beamten zusammenzuckten. Bronstein zuckte zum dritten Mal mit den Schultern und begab sich beinahe schlendernd zum Seiteneingang des Plenarsaals. Von seinen Kollegen unbehindert, trat er durch die Pforte und befand sich mit einem Mal unmittelbar hinter den großdeutschen Mandataren. Präsident Straffner begründete, weshalb er sich im Recht wähnte und kündigte sodann, die Weisung des Kanzlers effektvoll durch den Raum schwenkend, an, wegen Versuchs einer gewaltsamen Verhinderung der Sitzung des Nationalrates Anzeige gemäß Paragraph 76 StGB erstatten zu wollen. Unmittelbar danach erklärte er die Sitzung für geschlossen, und beide Ränder des Halbkreises erhoben sich, um mehrmals »Hoch die Verfassung!« zu rufen. Bronstein kam gar nicht mehr dazu, in den Gesichtern der Anwesenden zu lesen, denn in atemberaubender Geschwindigkeit leerte sich die Örtlichkeit, und ehe er es sich versah, war er allein in dem geschichtsträchtigen Gemäuer. Er ließ seinen Blick über die Statuen griechischer Philosophen schweifen, dann zuckte er zum vierten Male mit den Schultern und trat schließlich auch auf den Gang.
Als er zwei Stunden später wieder in seinem Büro eintraf, war von Cerny keine Spur zu finden. Bronstein meinte denn auch, für einen Tag genug getan zu haben, und verließ das Amt umgehend. Der Heimweg erwies sich als erstaunlich lang, denn vom ›Kupferdachl‹ über das ›Central‹ und das ›Herrenhof‹ bis zur ›Bierklinik‹ machte er in jedem Lokal Station, das sich zwischen seiner Arbeits- und seiner Schlafstelle befand. Am nächsten Morgen konnte er sich auch beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er in sein Bett gefunden hatte.
Mit hämmernden Kopfschmerzen sank er auf seinen Bürostuhl.
»Und?«, fragte er Cerny unter Aufbieten aller Kräfte, »wie war’s bei euch?«
»Du glaubst es nicht. Der Brandl hat das wirklich durchgezogen. Wir überbrachten der Heimwehr die Aufforderung, sofort das Gebäude zu räumen, und die haben sich tatsächlich zurückgezogen.«
»Einfach so?«
»Einfach so!«
Bronstein nickte.
»Aber hast schon g’hört, was heute passiert ist?«
»Nein, was denn?«