Die Mauer der Götter 1: Drachenzeichen. Alfred Bekker

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Die Mauer der Götter 1: Drachenzeichen - Alfred Bekker

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weshalb sollte ich die Mauer ersteigen?"

      "Ich habe Angst", sagte Hiro bedrückt und schwieg dann sofort – man konnte ihm fast dabei zusehen, was sich vor seinem inneren Auge abspielte.

      Beta tätschelte beruhigend den Arm ihres Jungen. "Für dich ist es etwas anderes", sagte sie. "Du bist bald ein junger Mann. Du brauchst die Erkenntnis und die Erfahrung, welche die Mauer der Götter dir gibt. Du bestimmst immerhin für deine zukünftige Familie die religiöse Ausrichtung."

      "Ich werde wie Vater Baumeister", sagte Hiro im Brustton der Überzeugung.

      Hinter ihnen war plötzlich das Geräusch einiger Schritte.

      "Du sollst es nicht werden, weil ich es bin, sondern weil du es willst!", sagte Coling, der in diesem Augenblick das Zimmer betrat.

      *

      Majestätisch ragte die Mauer empor.

      Bislang hatte sich Hiro der Mauer noch nie so weit genähert. Sein Vater hatte immer darauf geachtet, dass er ihr nicht zu nahekam, das hieß, dass er sich ihr höchstens bis auf fünfzig Schritt näherte.

      Natürlich hatte Coling stets die Drachen vorgeschoben als Begründung, weshalb es nicht ratsam war, der Mauer näher zu kommen. Jederzeit konnte es einem Drachen gelingen, bis an die Mauer zu kommen und darüber hinaus – und was dann geschah, wusste eigentlich niemand so recht, weil es glücklicherweise seit zahlreichen Jahren zu keiner direkten Konfrontation mehr gekommen war, aber es konnte schlimm werden. Man musste auf alles gefasst sein.

      Trotz seiner erst fast zehn Jahre flog ihm ein fast blasphemischer Gedanke zu, als er die Mauer der Götter jetzt genauer in Augenschein nahm. Aus der Nähe konnte man nämlich eine gewisse Baufälligkeit der Mauer nicht übersehen.

      Von der Ferne wirkte die Mauer fugenlos glatt und so, als könnte keine Kraft der Welt sie jemals zerstören, von der Nähe konnte er Risse erkennen, die durch das Mauerwerk liefen. An manchen Stellen klafften Löcher. Hier waren vermutlich Steine herausgefallen, den Göttern sei Dank nur die äußerste Schicht.

      Turmhoch ragte die Mauer empor.

      Hinauf in den Himmel.

      Ein Bauwerk, wie es nur Götter erschaffen konnten.

      Ehrfurchtgebietend.

      Gewaltig.

      "Gehen wir hinauf?", fragte Hiro.

      "Ja."

      "Gut."

      "Du hast Angst?"

      "Nein."

      "Natürlich hast du Angst."

      Er musste sich vergewissern, dass sein Vater nicht im letzten Augenblick einen Rückzieher machte. In seinem Blick, mit dem er seinen Vater ansah, lag nicht nur eine Frage, sondern auch eine Bitte: Enttäusche mich nicht!

      "Ja, wir steigen die Treppe auf den Mauergang hoch."

      Hiro blickte zu dem Turm, zu dem die Treppe gehörte. Der Turm stand nur 500 Schritt vom Meeresufer entfernt und lehnte sich haltsuchend an die Mauer. Er wirkte wie verwachsen mit der Mauer, obwohl er erst in späteren Jahren gebaut worden war.

      Der eigentliche Zugang auf die Mauer, der ursprüngliche Aufgang, befand sich in Embadan, der ewigen Stadt, der Stadt der Götter. Nachdem die Menschen auf der Halbinsel immer zahlreicher geworden waren, erwies es sich bald notwendig, weitere Zugänge zur Mauer zu errichten. So waren zwei weitere Türme hinzugefügt worden, einer am Nordufer der Engstelle, jener Stelle, der sich Hiro und Coling nun näherten, und ein weiterer ungefähr in der Mitte. Selbstredend benutzte Coling den Turm der Baumeister.

      Die mittlere Treppe beanspruchten die Wartenden. Am Südende der Mauer, in Embadan, war es kein Turm, der den Zugang auf die Mauer ermöglichte, sondern eine breite Prachttreppe. Die Rampe, auf der die Treppe ruhte, begann fast hundert Schritt vor der Mauer sich sanft in die Höhe zu erheben. Hier konnte der König die prunkvolle Prozession auf die Mauer hinauf anführen.

      Die Mauer war an der schmalsten Stelle der Halbinsel Aldanon errichtet worden. Die Mauer trennte das Große Land von der Halbinsel Aldanon. Diese Stelle hatten einst die Götter ausgesucht, denn das Land dahinter sollte frei von Drachen bleiben! Die ewige Stadt Embadan, am Südufer gelegen, wurde das kulturelle und bald auch das politische Zentrum.

      Die Strecke, die sie von dem Turm trennte, hatte Hiro vor Freude fast im Laufschritt zurückgelegt. Zu seiner Überraschung war der Eingang in den Turm unversperrt. Es gab sogar nur eine Schwingtüre, jede Hälfte etwa eine Armlänge breit, ansonsten keine Sicherung. Am liebsten wäre er gleich weitergestürmt, aber er zwang sich dazu, in Ruhe auf seinen Vater zu warten. Als sein Vater herankam, sah er an seinem zufrieden lächelnden Gesicht den Stolz, der Coling erfüllte.

      "Warte oben auf mich", sagte Coling, der den Drang seines Jungen, möglichst rasch auf die Spitze des Turmes zu steigen, nicht übersah. "Du darfst den Mauergang betreten, aber auch wenn bereits jemand oben ist, entferne dich nicht allzu weit."

      "Darf ich hinunterschauen?"

      "Da oben gibt es nicht mehr viel zum Herunterschauen", sagte Coling nur. "Aber natürlich, deswegen sind wir ja hier."

      Das ließ sich Hiro natürlich nicht zweimal sagen. Mit beiden Händen stieß er die Schwingtür auf und trat ein. Die Treppe nahm den gesamten Platz in dem Turm ein. An der Wand entlang führte sie jeweils neun Stufen empor, ehe sie im rechten Winkel wieder für neun Stufen abbog. So ging es weiter. Bei seiner Erstbesteigung zählte Hiro 432 Stufen.

      Hiro atmete zwar heftig, als er oben ankam, aber die Anstrengung hatte seine Kräfte kaum gemindert.

      Die oberste Plattform des Turmes war ebenfalls nur durch eine Schwingtür gesichert. Diese war jedoch nur halb so hoch, so dass er über die Tür hinweg hinausblicken konnte.

      Er war allein hier oben. Die Morgensonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, aber ein kühler Wind pfiff ihm entgegen.

      Hiro trat aus dem Turm auf den breiten Weg, der auf der Mauer entlanglief. Die Fußbodensteine waren abgetreten und manche von ihnen richtig glatt geschliffen. Viele tausend Füße waren über sie bereits hinweggeschritten. Ehrfurchtsvoll setzte er Schritt vor Schritt. Die Mauer war mindestens fünf Schritt breit. Eine niedere Mauer, nicht höher als ein Knie, begrenzte jene Seite, die der Halbinsel Aldanon zugewandt war. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Begrenzungsmauer sicherlich so hoch wie ein großer Mann, aber regelmäßig durchbrochen, so dass die Soldaten und Drachenwächter mit ihren Waffen ein freies und sicheres Schussfeld vorfanden.

      Hiro legte die fünf Schritt zurück und blickte über die Mauer. Im ersten Moment erschrak er, denn er bekam nicht das zu sehen, was er erwartet hatte zu sehen. Gleichzeitig verstand er jetzt auch die Worte seines Vaters, wenn er in den Abgrund hinter der Mauer blickte. Wo die Mauer auf der einen Seite Turmhoch emporragte, waren es auf der anderen Seite nur ... vielleicht eine Mannhöhe dort, wo er sich gerade befand, etwas weiter vielleicht fünf, woanders vielleicht sogar noch weniger ...

      Mit einem Mal erkannte Hiro die Schwierigkeit, vor der sein Vater stand. Vor wem sollte diese Mauer denn noch schützen, wenn sie so niedrig

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