Frühlingstochter. Isolde Kakoschky
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Doch auf den Brief ihrer Mitschülerin hatte sie nicht reagiert. Manuela stand vom Sessel auf und ging zum Fenster. Von der zwölften Etage des Hochhauses konnte sie weit übers Land sehen. Dort, ganz hinten, ließen sich die kegelförmigen Halden des Mansfelder Kupferschiefer-Bergbaus erahnen. Würde sie sich ins Auto setzten, wäre sie in weniger als einer Stunde in ihrer Heimatstadt angekommen. So oft waren Manuela und ihr Mann mit ihrem Sohn auf dem Weg in den Harz ganz nahe dort vorbei gefahren. Dennoch hatte sie seit Jahren keinen Fuß mehr in die Straßen ihrer Heimat gesetzt. Das letzte Mal war zur Beerdigung ihrer Mutter gewesen. Ihr erwies sie die letzte Ehre, obwohl es sie zwang, ihren Vater zu treffen. Er hingegen hatte sie keines Blickes gewürdigt. Als er ein paar Jahre später starb, da weinte sie ihm keine Träne nach. Sie hatte gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Maria das Erbe ausgeschlagen und alles, was noch da war, an ihre Tante, die Schwester ihres Vaters übergeben, die sich auch um die Formalitäten und die Beisetzung gekümmert hatte. Nein, ihre Eltern fehlten ihr nicht.
Trotzdem vermisste sie etwas. Früher, als die Zeitung noch zehn Pfenning kostete, da hatte sie neben der Ausgabe aus Halle auch die ihrer Heimatstadt abonniert. Jetzt kam ihr die moderne Technik entgegen. So konnte sie die elektronische Ausgabe als E-paper lesen und war immer über die Neuigkeiten informiert.
Im Nachhinein ärgerte sich Manuela, nicht zum Jahrgangstreffen gefahren zu sein. Es wusste ja sowieso keiner etwas von ihrer Vergangenheit und sie hätte nichts erzählen müssen, was sie nicht wollte. Aber für Reue war es jetzt zu spät.
Ein paar Tage nach dem Treffen hatte sie den Artikel gelesen und ausgedruckt. Stundenlang hatte sie das Foto angesehen, auf dem ihre Mitschüler fröhlich in die Kamera blickten. Und sie glaubte sogar, die eine oder andere ihrer Mitschülerinnen zu erkennen. Seitdem fragte sie sich immer wieder, ob sie nicht doch einmal wieder nach Hettstedt fahren sollte, durch die vertrauten Straßen laufen und vielleicht sogar Bekannte treffen. In dem Zeitungsartikel stand geschrieben, dass noch viele in der Nähe wohnen würden.
Auf dem Tisch machte sich ihr Smartphone bemerkbar. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie das Gespräch annahm.
»Hallo Kai«, begrüßte sie ihren Sohn. »Wie geht es dir, mein Junge? Und was macht mein Sternchen?«
»Gut geht es uns«, verkündete Kai. »Aber unsere Stella hat wieder keine Lust, ins Bett zu gehen, bevor sie noch nicht der Oma ›Gute Nacht‹ gesagt hat.«
Manuela schmunzelte. So kannte sie ihre Enkelin. Immer musste sie ihren Kopf durchsetzen. Und ihr Sohn verwöhnte seine kleine Tochter nach Strich und Faden. Schon tönte das glockenhelle Stimmchen von Stella aus
dem Handy. »Oma, ich habe neue Sandalen an, die sind pink und mit Glitzer! Kann ich die im Bett anlassen?« Manuela lachte. »Nein, mein Schatz, im Bett ziehst du sie besser aus, aber am Sonntag, wenn wir in den Zoo gehen, dann kannst du sie mir zeigen.«
»Ist gut«, gab sich Stella einsichtig. Ein schmatzendes Geräusch drang durch den Lausprecher. »Küsschen, Omi! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, mein Liebling! Schlaf gut!«
Nachdem sich Manuela von ihrem Sohn verabschiedet und einen Gruß an Nina, seine Lebensgefährtin, hinterlassen hatte, legte sie das Smartphone zur Seite. Eine warme Welle durchflutete ihren Körper. Oh, wie sehr sie ihren Kai liebte! Als er geboren wurde und die Hebamme ihr sagte, dass es ein Junge sei, da hatte sie ihn sofort annehmen können. Es war gut, dass es ein Junge geworden war. Sie waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Ihr Mann Andreas hatte so oft außen vor gestanden, weil er dieser engen Beziehung nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht war es auch ein Grund gewesen, warum ihre Ehe schließlich scheiterte. Sie hatten sich nicht betrogen, sich nicht Schimpf und Schande an den Kopf geworfen, aber sie hatten auch nichts mehr gemeinsam. Möglicherweise wäre es besser gewesen, wenn Manuela ihrem Mann alles anvertraut hätte, vielleicht hätte er sie dann verstehen können und ihre übertriebene Liebe zu ihrem Sohn nicht dermaßen zum Streitthema gemacht. Doch immer hatte ihr der Mut ge-
fehlt. So kam zum Schluss die Trennung allen nur folgerichtig vor. Gekämpft hatte sie um ihre Ehe nur so lange, um ihrem Sohn das Elternhaus zu erhalten. Kai hatte damals kurz vor dem Schulabschluss gestanden. Er studierte nach dem Abitur in Leipzig und blieb auch nach dem Abschluss dort, um nicht zu weit von seiner Mutter weg zu müssen. Nicht, weil er wirklich ein Mamasöhnchen gewesen wäre, eher aus Sorge um Manuela. Aber die hatte ihren Beruf und ihr Leben im Griff. Selbst ihr Sohn wusste nicht, welches Geheimnis sie seit Jahrzehnten mit sich herum trug.
Als ihr Kai kurz nach dem Studienabschluss offenbarte, dass er Vater werden würde, da hatte sie eigentlich mit einer Hochzeit gerechnet. Die jungen Leute dachten allerdings darüber ganz anders als sie. Inzwischen war Stella schon fast fünf, und Heiraten war immer noch kein Thema. Zumindest lebte die kleine Familie zusammen in einer geräumigen Altbauwohnung im Süden von Leipzig, die in den Jahren nach der Wende aufwendig saniert worden war.
Früher, da hatte das ganz anders ausgesehen. Sie hatten heiraten müssen, um eine gemeinsame Wohnung zu erhalten, um überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Glück hatten sie gehabt, hier in der Neustadt im Westen von Halle eine so schöne Neubauwohnung zu ergattern. Da war es sehr hilfreich gewesen, dass Manuela und ihr Mann in dem großen Chemiebetrieb vor den Toren der Stadt gearbeitet hatten. Sie hatten schon
ein Kinderzimmer besessen, noch ehe Kai zur Welt kam. Fast undenkbar damals. Ja, damals war sie mit ihrem Leben zur Ruhe gekommen. Sie war eine liebevolle Mutter, arbeitete aber auch gerne in ihrem Beruf im Chemiewerk. Ihr Junge war so brav, weinte nie, wenn sie ihn schon mit einem halben Jahr in die Krippe brachte. Auch das hatten Kai und Nina anders gesehen. Erst nach zwei Jahren war Stella zu einer Tagesmutter gekommen, und mit drei dann in den Kindergarten. Dass ihr erstes Enkelkind ein Mädchen werden würde, hatte sich schon in der Schwangerschaft herausgestellt. Das hatte ihr Zeit gegeben, sich darauf einzustellen. Ein Mädchen, dieser Gedanke riss alte Wunden wieder auf. Und wenn sie jetzt ihren Sohn erlebte, wie er mit seiner Tochter umging, mit ihr spielte, mit ihr lachte, sie verwöhnte, dann tat die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und an den Mann, der ihr Vater war, doppelt weh. Manuela legte den Zeitungsartikel zurück in den Schrank. In der Küche bereitete sie sich ein paar Scheiben Brot zum Abendessen zu und landete mit dem Teller wieder vor dem Fernseher. Seit sie allein lebte, musste sie keine Rücksicht mehr nehmen. Ihr reichten einfache Gerichte, die sich schnell zubereiten ließen. Den leeren Teller stellte sie in die Spülmaschine, ehe sie sich bettfertig machte. Sie las noch ein paar Seiten und im Einschlafen geisterten noch einmal ihre Schulkameraden durch den Kopf. Vielleicht würde sie doch einmal über ihren Schatten springen?
2. Kapitel
Am Freitagnachmittag erledigte Manuela nach der Arbeit ein paar Einkäufe, ehe sie sich auf den Weg in die »Heide«, das hallesche Erholungsgebiet, zur Sauna begab. Im Winter besuchte sie den finnischen Schwitztempel regelmäßig, doch auch im Sommer zog es sie ab und zu in diese kleine Wellness-Oase, wenn das Wetter ein Baden im Freien nicht zuließ oder wenn sie erschöpft war, oder sie sich einfach nur ausruhen oder nachdenken wollte. So wie heute.
Obwohl es bisher eigentlich noch recht kühl für die Jahreszeit war, hatten nicht sehr viele Menschen das Bedürfnis nach Wärme. Jedenfalls war es eher leer. Sie hatte es sich mit zwei anderen Frauen bei 80 Grad gemütlich gemacht, die sich leise unterhielten. Das war zwar nicht gerade üblich, doch es störte sie nicht. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach und musterte ihren nackten Körper.