Frühlingstochter. Isolde Kakoschky

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Frühlingstochter - Isolde Kakoschky

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Markt aus konnte sie nun mit der Straßenbahn direkt bis nach Halle-Neustadt fahren. Schon vor Jahrzehnten hatte es diese Pläne gegeben, die jedoch in der Zeit der DDR nie realisiert wurden. Manuela gönnte sich in einem Café auf dem Markt noch einen Cappuccino und genoss den Blick auf die Silhouette der fünf Türme, ehe sie sich in der Straßenbahn auf einen Sitz fallen ließ. Für heute war sie genug gelaufen. Langsam taten ihr die Füße weh.

      In ihrer Wohnung ließ sich Manuela warmes Badewasser in die Wanne laufen und gab duftendes Schaumbad dazu. Es war ein so schöner Tag heute gewesen, wie alle Tage, die sie mit Kai und seiner Familie, besonders aber mit Stella, verbringen konnte. Wie oft schon hatte sie Stella mit sich selbst verglichen. Irgendwann war sie doch auch einmal ein kleines Mädchen gewesen. Doch an glückliche Momente konnte sie sich nicht erinnern. Gerade heute, als Kai erzählte, wie sehr sich Stella schon auf die Schule freute, da hatte es ihr einen Stich ins Herz gegeben. Falls sie jemals Freude auf die Schule empfunden hatte, so hatte sie ihr der Vater gründlich verleidet mit seinen Sprüchen vom

      »Ernst des Lebens« und dass es jetzt »anders rum gehen« würde. Und dann war plötzlich auch noch Maria nicht mehr da, ihre geliebte große Schwester. Ganz deutlich sah sie das Bild vor sich an jenem Sommertag 1964.

      

       5. Kapitel

      

      Hedwig Knoor stand in ihrer Kittelschürze am Herd und hatte gerade einen Topf mit Milch aufgesetzt. Die sechsjährige Manuela saß am Küchentisch, ebenso ihr Vater. Es war ein Sonntag und es war der achtzehnte Geburtstag ihrer Schwester Maria. Auf dem Küchenschrank lag ein kleines Päckchen mit einem Geschenk für Maria. Manuela hatte es gesehen, als es die Mutter am Tag vorher eingepackt hatte. Der Unterrock mit Spitze oben und unten sah schön aus, fand Manuela. In einem Konservenglas stand ein Strauß bunter Astern aus dem Garten. Jetzt fehlte nur noch Maria.

      Demonstrativ sah der Vater auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Schon verdunkelte sich sein düsterer Blick noch mehr. Manuela wusste genau, dass es gleich Ärger geben würde. Um acht Uhr begann der Gottesdienst, da mussten sie fix und fertig in der Kirche sein. Da hatte keiner mehr am Frühstückstisch zu sitzen oder gar noch zu schlafen. Im letzten Moment riss die Mutter den Topf mit der kochenden Milch von der Gasflamme. So gespannt hatte sie in Richtung Tür gestarrt, als könne ihr Blick die Tochter herbeiholen, dass sie die Milch fast vergessen hätte.

      Von der Treppe, die in die Mansardenzimmer hinauf führte, drangen Geräusche bis in die Küche. Doch es waren nicht die leichtfüßigen Schritte des jungen Mädchens, auf die alle anderen inzwischen mit Anspan-

      nung warteten. Es klang, als würde etwas Schweres bewegt werden.

      »Soll ich dir schon Kaffee eingießen, Friedrich?«, versuchte Hedwig, die Situation auf den Alltag zu lenken. Manuela sah noch, wie der Vater seinen Arm hob. Im nächsten Moment krachte seine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, dass die Tischplatte erbebte. Die Tassen sprangen hoch und stürzten scheppernd um. Tränen schossen Manuela vor Schreck in die Augen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten, wusste sie doch, dass Heulen den Vater nur noch mehr reizte, doch es gelang ihr nicht.

      »Hier wird weder gegessen noch getrunken, ehe nicht unser Fräulein Tochter erschienen ist!«, schrie er seine Frau an. »Und du hör auf zu flennen, sonst setzt es was!« Keiner Bewegung fähig zog Manuela die Nase hoch.

      In dem Moment wurde die Küchentür geöffnet und Maria trat ein.

      »Kind, du bist zu spät«, versuchte die Mutter, ihre Tochter zu einer Entschuldigung aufzufordern, die ihren Mann vielleicht wieder beruhigen würde. Doch der Blick in Marias Gesicht ließ ihre Hoffnung schwinden. Mit trotziger Entschlossenheit sah Maria ihre Eltern an. »Mag sein, dass ich spät bin. Doch es ist nicht zu spät!«

      Verständnislos sah die Mutter sie an. »Was meinst du damit?«

      »Ganz einfach, ich gehe. Ich bin jetzt volljährig, ich ziehe aus. Ich ertrage es nicht mehr hier mit euch. Ich ersticke an eurem Weihrauch und was auch sonst immer. Ich lasse mich nicht mehr verprügeln für nichts und wieder nichts.«

      »Aber Kind, wo willst du denn hin?« Die Mutter schluchzte laut auf.

      »Mach dir keine Sorgen, Mutti, ich komme schon zurecht. Jedenfalls stecke ich meine Füße nicht mehr unter euren Tisch!«, spielte sie auf den häufig gebrauchten Satz ihres Vaters an.

      Maria trat um den Tisch herum auf Manuela zu. »Sei stark, kleine Schwester! Ich melde mich ab und zu. Ich hab dich lieb!«

      »Auf Wiedersehen, Mutti. Auf Wiedersehen, Manuela.«

      Die Mutter griff zu dem Päckchen auf dem Küchenschrank. Bisher hatte der Vater kein einziges Wort gesagt. Jetzt schraubte er sich von seinem Stuhl in die Höhe. Mit einem Ruck schob er den Tisch zur Seite und stand zwischen seiner Frau und seiner Tochter. Er riss Hedwig das Päckchen aus der Hand und warf es durch die Küche bis an die hintere Wand. Dann brüllte er los.

      »Raus! Verschwinde! Geh mir aus den Augen! Du undankbares Balg! Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken!« Seine Augen quollen so weit hervor, als würden sie jeden Moment aus dem Kopf fallen.

      Maria trat in den Hausflur, wo sie den alten, abgewetzten Koffer abgestellt hatte, und zog die Küchentür von außen zu.

      Manuela saß starr vor Angst auf ihrem Stuhl. Durch den verschobenen Tisch war eins ihrer Beine eingeklemmt worden, doch sie wagte weder ein Wort zu sagen, noch zu weinen. Auch ihre Mutter hatte noch keine Bewegung getan, seit die Tür ins Schloss gefallen war. Dafür tobte der Vater wieder los.

      »Da siehst du nun, was du mit deiner Nachgiebigkeit erreicht hast, haut einfach ab, das Fräulein Tochter. Wird schon sehen, was sie davon hat. In der Gosse wird sie landen. Ich hab´s ja immer gewusst, ich hätte sie viel härter ran nehmen müssen!« Dabei streifte sein Blick Manuela. Was dieses »hart rannehmen« für sie bedeutete, wurde ihr erst später klar.

      »Anziehen! Die Glocken läuten!«, blaffte er kurz darauf seine Frau und seine kleine Tochter an. Mit erstarrten Gesichtern folgten sie dem Gottesdienst und Manuela betete heimlich: »Lieber Gott, mach dass Maria wieder kommt!«

      Doch Maria kam nicht wieder.

      Erst langsam begriff Manuela, dass sie nun mit Vater und Mutter allein leben würde. Maria fehlte ihr so sehr. Bei ihr hatte sie sich geliebt und geborgen gefühlt. Wenn es die Mutter jemals gekonnt hatte, dann hatte sie die Fähigkeit zu lieben in der Ehe mit Friedrich verlernt. Und der Vater kannte nur Beten und Arbeit und Buße tun. Er legte die Bibel so aus, wie es ihm gefiel. Nun, da Maria nicht mehr da war, gab es niemanden, der Manuela liebte und den sie liebte. Die ersten Tage wartete sie noch, dass Maria zurück kommen würde. Dann wartete sie, dass sie sich melden würde. Doch nichts geschah.

      Inzwischen ging sie längst zur Schule. Aber ganz entgegen aller durch den Vater gesäten Befürchtungen, gefiel ihr die Schule. Sie lernte leicht und gern. Es machte ihr Spaß, etwas Neues zu begreifen. Was ihr nicht gefiel, war ihre Stellung als Außenseiterin in der Klasse. Als im Dezember alle Kinder ein blaues Halstuch von den Großen aus der vierten Klasse umgebunden bekamen, stand sie abseits und ging leer aus. Sie durfte nicht an den Pioniernachmittagen teilnehmen. Stattdessen ging sie zur Christenlehre oder später zum Kommunionsunterricht. Doch das kam ihr nicht halb so lustig vor, wie das, was die anderen ihr gelegentlich von den Pionieren erzählten.

      Erst zwei Jahre später erhielt Manuela das erste Lebenszeichen von Maria, als eines Tages

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