Frühlingstochter. Isolde Kakoschky

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Frühlingstochter - Isolde Kakoschky

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mit Kai deutlich an Straffheit verloren. Was sollte sie sich aber beklagen mit Mitte Fünfzig? Immerhin zeigten sich noch keine grauen Haare. Oder sie fielen nicht auf in ihrer undefinierbaren Farbe, die sie immer »Straßenköter-blond« nannte. Als junges Mädchen war sie nicht unansehnlich gewesen. Sie seufzte leise auf. Da waren sie wieder, diese erdrückenden Bilder der Erinnerung.

      Am nächsten Morgen lief Manuela unentschlossen durch die Wohnung. Irgendwann musste sie es wagen! Schließlich zog sie sich eine leichte Jacke über Rock und Bluse und startete das Auto. Obwohl die meisten Frauen, auch ihres Alters, eher Jeans bevorzugten, trug Manuela meistens Röcke. Es war nur eine der Folgen der Erziehung in ihrer Kindheit und Jugend. Der Vater hatte nie zugelassen, dass seine Töchter Hosen trugen. Inzwischen konnte sie längst selbst entscheiden, doch diese Gewohnheit war geblieben. Zügig fuhr sie los. Gegrübelt hatte sie wahrhaftig lange genug. Jetzt wollte sie Taten folgen lassen. Am Rand der Dölauer Heide hielt sie sich Richtung Nordwesten und folgte der Straße bis zum Thälmannschacht. Sein Spitzkegel war die Bekannteste der Mansfelder Halden und weithin zu sehen. Hier bog sie nach rechts ab und erreichte schon bald die kleine Stadt im Tal der Wipper. Einstmals war es eine Kreisstadt gewesen, doch schon kurz nach der Wende hatte sie diesen Status verloren. Inzwischen mauserte sich das Städtchen aber zu einem hübschen, liebenswerten Ort. Obwohl sie wirklich nicht oft hier gewesen war, hatte sie alle Entwicklungen mitverfolgt. Vor mehr als zehn Jahren, noch bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde, war sie mit ihrem Mann gelegentlich hier durchgefahren. Wenn man von Aschersleben in Richtung Eisleben wollte, ergab es sich zwangsläufig als kürzester Weg. Ihr Mann wusste nichts von dem, was sie seit Jahrzehnten so bedrückte. Andreas akzeptierte einfach, dass sie mit ihren Eltern keinen Kontakt mehr wollte. Wahrscheinlich hatte er nie bemerkt, wie unruhig Manuela dann immer neben ihm geworden war.

      Genauso erging es ihr jetzt wieder. Das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, konnte man von hier aus nicht sehen. Aber ein Schauder lief ihr über den Rücken und ihr Magen schien heftig rebellieren zu wollen, als sie die katholische Kirche wahrnahm. Längst war sie aus der Kirche ausgetreten, der Vergangenheit konnte sie dadurch jedoch nicht entfliehen. Nun ja, eigentlich konnte die Kirche nichts dafür; es war das, was ihr Vater aus der Religion gemacht hatte, was ihr die Kindheit und Jugend vergällte. Sie ließ das Fenster ein Stück herunter und atmete tief die Luft ein, die heute von Wärme erfüllt war, und deutlich zeigte, dass in ein paar Tagen der kalendarische Sommer begann.

      An der Wipperbrücke verließ sie die Hauptstraße und bog in Richtung Markt ab. Doch zum Anhalten konnte sie sich einfach nicht durchringen. »Es muss ja nicht unbedingt heute sein«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie wendete und folgte nun der Straße in Richtung Harz. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie auch einen Ausflug daraus machen. Aber dann fiel ihr Blick auf das Gelände zu ihrer Rechten und sie bog im letzten Moment zum Friedhof ab. Wenigstens das Grab ihrer

      Mutter wollte sie besuchen. Auch hier war sie seit Jahren nicht gewesen. Sie parkte den Golf neben einer Gärtnerei und kaufte einen Blumenstrauß. Nachdem ihr Vater auch gestorben war, kamen Maria und sie überein, das Grab durch die Gärtnerei pflegen zu lassen. Ihre Schwester gehörte zu jenen, die im Sommer 1989 über Ungarn in die BRD ausreisten. Inzwischen lebte sie in einer kleinen Stadt im Weserbergland. Sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, sich hier um ein Grab zu kümmern; und Manuela wollte es nicht.

      Langsam schritt sie durch die mit hohen, alten Bäumen bestandenen Grabreihen. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch das Blätterdach. Schön war es hier, wenn man das über einen Friedhof überhaupt sagen konnte. Dann stand sie vor dem Grab ihrer Mutter. »Familie Knoor« stand auf dem Stein. Doch darunter nur »Hedwig 1923 – 2003« Manuela wusste nicht, ob hier auch ihr Vater beigesetzt wurde, es war ihr eigentlich auch egal. Von ihrer Tante hatte sie nur erfahren, dass er eingeäschert wurde, und das bereitete ihr eine innere Genugtuung. Bei der Mutter hatte er gegen ihren Willen auf einer Erdbestattung bestanden. Und seine Töchter fürchteten ihn auch noch nach Jahrzehnten so sehr, dass Widerworte undenkbar schienen. Nun war er hoffentlich in dem Fegefeuer gelandet, das er ihnen immer vorausgesagt hatte.

      Manuela stellte die Blumen in eine Vase, die sie hinter dem Stein fand. Minutenlang verharrte sie stumm vor dem Grab. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihrer Mutter jetzt noch Vorwürfe zu machen, dazu war es längst zu spät. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass die Mutter ihre beiden Mädchen sehr geliebt hatte. Und hätte sie gekonnt, sie hätte anders entschieden, damals vor 41 Jahren. Doch sie war zu schwach, sich zur Wehr zu setzen. Keiner konnte das besser verstehen als Manuela selbst.

      Wortlos verließ sie den Friedhof und fuhr mit dem Auto zurück zur Hauptstraße. Einer plötzlichen Eingebung folgend bog sie aber kurz darauf links ab und durchquerte das Neubaugebiet, das in ihrer Jugend gerade im Entstehen war. Es schloss an die alte Siedlung an, die sich schon ein Jahrhundert früher um den Berg herum gebildet hatte. Hier hatte Karsten gewohnt. Manuela stellte den Golf auf einer geschotterten Fläche ab, wo mitten im Gestrüpp ein blaues Parkplatz-Schild eher deplatziert wirkte, und stieg aus. Mit dem fremden Kennzeichen am Fahrzeug wollte sie nicht die Anliegerstraße hinunter fahren. Lieber ging sie ein paar Schritte zu Fuß. Ob er noch immer hier wohnte? Doch diese Frage stellte sich ein paar Meter weiter nicht mehr. Wo einstmals Karstens Elternhaus gestanden hatte, gab die frisch beräumte Fläche den Blick auf den winzigen Hof und die Bäume in dem kleinen Garten frei. Betrübt lief sie zurück zum Auto. Von ihm hätte sie gerne gewusst, wo er jetzt lebte, ob es ihm gut ging. Auch da hatte sie wohl die Gelegenheit verpasst. Kris-

      tina, die Nichte von Karsten, war einige Zeit in ihrer Klasse gewesen. Manuela hätte sie nach Karsten fragen können, wenn sie sich denn beim Jahrgangstreffen gesehen hätten.

      Entschlossen drehte Manuela den Zündschlüssel um. Für heute war es genug. Sie würde jetzt weiter hinauf in den Harz fahren, sich dort ein nettes Restaurant suchen und nicht mehr an die Vergangenheit denken.

      Eine Viertelstunde später erreichte sie die Bundesstraße wieder, die sie am Thälmannschacht verlassen hatte. Wie oft war sie mit ihrem Mann und Kai hier entlang gefahren! Zuerst war es der östliche Teil des Mittelgebirges, in dem sie wanderten und Pilze suchten. Nachdem die innerdeutsche Grenze gefallen war, tasteten sie sich auch in den westlichen Teil und den Oberharz vor. Als die Harzhochstraße wieder bis Seesen durchgängig befahrbar war, da fühlte sie sich im wiedervereinten Deutschland angekommen.

      Im Tal sah sie Schloss Rammelburg liegen. Von Weitem wirkte es wie ein verwunschenes Märchenschloss, doch leider zerfiel dieses Kleinod im Wippertal immer mehr. Sie folgte der Straße weiter bergan und bog kurz vor Harzgerode nach links ab. Die Felder rechts und links wurden hier vom Wald abgelöst. Manuela öffnete ein Fenster und sog den Tannenduft tief in sich hinein. Sie liebte Berge und Wälder sehr und hatte immer die Schulkameraden beneidet, die mit ihren Eltern an den Wochenenden Ausflüge hier her unternahmen. Bei ihr

      bestand der Sonntag aus Kirche und Beten. Vergnügen war im Leben ihres Vaters nicht vorgesehen, das erwartete, nein verlangte er auch von seiner Familie. Schon früh hatte sie erfahren und begreifen müssen, was es in den Augen ihres Vaters hieß, ein Katholik zu sein. Hier im Mansfelder Land, der Heimat des großen Reformators Martin Luther war man höchstens evangelisch, meistens aber gar nichts, und das von Staats wegen. Den Hänseleien in der Schule, weil sie als einzige kein Pioniertuch trug, fühlte sie sich hilflos ausgesetzt. Aber schlimmer waren die Gängelei und die Maßregelungen zuhause. Dem entkommen konnte man nur durch Flucht.

      Manuela stoppte auf dem Parkplatz am Fuße des Großen Auerbergs. Mit Kai auf der Schulter waren ihr Mann und sie einst zum Josephskreuz gewandert. Das waren die schönen Erinnerungen, die sie sich in ihrem Inneren bewahrte. Kai hatte es an nichts gefehlt. Nicht an materiellen Dingen, alles was man kaufen konnte, hatten sie ihm geboten. Aber auch an Liebe und Zuwendung mangelte es dem Jungen nie. Andreas war ein toller Vater und kümmerte sich jetzt auch um seine Enkeltochter.

      Im Gasthaus bestellte sich Manuela einen Wildgulasch. Sie war es gewöhnt, alleine zu essen und ließ es sich gut schmecken.

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