EMP. Andrea Ross
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Wie schwer einem diese paar Kilogramm doch vorkommen können, wenn man sie erst einmal eine Dreiviertelstunde lang auf den Schultern trägt! Ich bin so etwas nicht gewohnt. Bisher habe ich natürlich stets das Auto benutzt, sobald irgendetwas Schweres transportiert werden musste.
Die körperliche Anstrengung war das Eine. Die andere, weitaus schlimmere Neuerung schien mir jedoch das Gefühl einer nagenden Unsicherheit zu sein.
In den Blicken vieler Menschen hat sich seit vergangener Woche spürbar etwas verändert, ist eine schier unheimliche Transformation vonstatten gegangen. Misstrauen und Gier ist in den rot geränderten Augen zu lesen, was mich doch ziemlich ängstigt. Manch einer schien bei meinem Anblick zu überlegen, ob ich in meinen Behältnissen etwas von Interesse mit mir führen könnte, was einen spontanen Überfall rechtfertigen würde.
Nein, ich habe mich heute nicht wohl in meiner Haut gefühlt! Falls jemand über mich hergefallen wäre, was hätte ich dagegen schon ausrichten können?
Erleichtert ließ ich meine Taschen nach der zum Glück sicheren Ankunft im Rathaus II fallen, erhielt zur Stärkung gleich einen Apfel und ein Glas Milch von Peter in die Hand gedrückt. Er sah mir wohl an, in welch desolatem Zustand ich mich befand. Im Gegenzug wühlte ich die verbliebenen Lebensmittel aus dem Rucksack, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Ein Glas Marmelade, ein Glas Senf, Teebeutel, Mehl, Zucker und mehrere Packungen Spaghetti, welche ich in den vergangenen Tagen im Küchenschrank oft sehnsüchtig anschmachtete, jedoch nicht hatte zubereiten können. Wie auch, ohne heißes Wasser, ohne Kochgelegenheit? Hier liegen die Dinge anders, wir verfügen über eine Feuerstelle, über Töpfe und Kessel.
Peter zeigte mir dann »mein« Zimmer im ersten Stock. Jeder Camp-Einwohner erhielt zum Schlafen ein eigenes Zimmer zugeteilt, nur Kinder teilen sich eines zu mehreren oder werden bei den Eltern einquartiert. Peter meinte, das Haus weiter oben zu besiedeln, sei Blödsinn – man müsse dann jedes Mal die Treppen überwinden. Deswegen habe er nicht »mein« angestammtes dienstliches Zimmer für mich reserviert, sondern dieses hier.
Da hat er Recht, ohne Aufzug sind hoch gelegene Stockwerke nun einmal schwer zu erreichen. Ich warf also meinen Schlafsack auf den hässlich abgenutzten Teppichboden, stellte meine Kosmetikartikel auf den Waschbeckenrand und verstaute die Klamotten im Schrank. Den Rest meiner Sachen beließ ich in den Taschen, stellte diese nur unten in den Einbauschrank.
Den Schreibtisch rutschte ich mit Peters Hilfe unters Fenster, damit ich als Chronik-Schreiberin das Tageslicht möglichst lange zum Arbeiten nutzen konnte. Kerzen hatte er auch bereits für mich reserviert, lud sie allesamt vor mir auf dem Tisch ab.
Das war sie also, meine neue Heimat! Ein mickriges Zimmer in der »Kriegsopferfürsorgestelle«. So vertraut mir die Diensträume als jahrelanger Arbeitsplatz bei der Stadt hätten sein sollen, so fremdartig fühlten sie sich als Wohngelegenheit an. Es ist eben wirklich alles eine Sache der Einstellung, des Blickwinkels und der damit verbundenen subjektiven Wahrnehmung.
»Herzlich willkommen, fühl dich wie zu Hause!«, bemerkte Peter mit ein bisschen Ironie in der Stimme. »Wir sind übereingekommen, die Zimmer nicht abzusperren, auch nachts nicht. Man kennt und vertraut sich ja untereinander, nicht wahr?
Außerhalb der Schlafenszeiten halten wir uns meist unten in der Lobby auf, oder aber draußen am Feuerkorb, wo wir auch zusammen kochen werden. Du kannst dich selbstverständlich zum Schreiben zurückziehen, wann immer du willst. Ansonsten werden wir alles gemeinsam tun, ob wir nun essen, beraten, uns schützen oder was immer zukünftig so anfallen wird. Bist du einverstanden?«
Ich nickte. »Klar, klingt ja auch vernünftig! Aber heute muss ich dringend noch einen letzten Alleingang machen. Ich möchte nachsehen, wie es meinen Eltern geht, ob sie einigermaßen klarkommen und noch etwas zum Essen haben. Heute Abend bin ich wieder da!«
Peter runzelte die Stirn. »Du willst alleine durch die Stadt laufen? Das ist eigentlich überhaupt nicht mehr ratsam. Mir sind schon merkwürdige Elemente da draußen begegnet, welche die Zivilisation und ihre Regeln bereits abgelegt zu haben scheinen. Die Straßen werden zunehmend gefährlich, weißt du?«
»Habe ich vorhin schon selber gemerkt!«, bestätigte ich und fand den Gedanken, einsam und alleine zur Wohnung meiner Eltern zu wandern, selber nicht mehr sehr geheuer. »Ich werde Alexandra fragen, ob sie nicht mitkommen und mich begleiten möchte!«
»Prima Idee! Hättest du vorher gerne eine Tasse Kaffee? Über dem Feuer köchelt zufällig gerade eine ganze Kanne davon!«, verriet Peter grinsend. Er kannte meine Vorliebe für dieses belebende Getränk in all seinen Variationen.
Und ob ich wollte! Dankbar nahm ich unten auf der Terrasse meine Tasse entgegen und hielt sie wie einen Schatz fest umklammert, wärmte mir nebenbei daran die Hände. Ganz sicher handelte es sich hier nicht um die besten Bohnen weltweit, die für diesen Kaffee verarbeitet worden waren; mir dünkte diese erste Tasse seit Tagen jedoch trotzdem wie ein ausgewähltes Geschenk des Himmels.
In kleinen, bewusst genossenen Schlucken nahm ich das Heißgetränk wie in einem feierlichen Ritual zu mir; ich fühlte, wie es mich belebte. Wie oft hatte ich im Dienst meinen edlen Kaffee einfach so nebenbei in mich hineinkonsumiert, ohne dem Geschmack jedes einzelnen Tropfens auf meiner Zunge nachzuspüren! Man weiß eben oft erst, was die Dinge einem wert sind, wenn man sie verloren hat.
Alexandra, diese gute Haut! Sie sagte sofort zu, dass sie mich gerne begleiten werde, kaum dass ich meine Frage gestellt hatte. Peter stattete uns beide vorsichtshalber noch mit einer Dose Pfefferspray aus, dann machten wir uns gleich auf den Weg. Bei Einbruch der Dunkelheit wollten wir aus Sicherheitsgründen schließlich spätestens zurück sein, und zu Fuß scheinen sich selbst verhältnismäßig kurze Strecken schier endlos hinzuziehen. Jetzt gehe ich hinunter zum Abendessen, weiterschreiben kann ich nachher immer noch. Ich bin schon sehr gespannt, was die Jungs im großen Hängekessel so zubereitet haben, es riecht auf dem Flur jedenfalls schwer nach Eintopf!
*
Es gab vorhin wirklich Eintopf, meine Nase hat mich nicht getrogen! Walter und Wolfgang rührten mit behäbigen Bewegungen im großen »Druidenkessel«, wie ich den schmiedeeisernen Giganten, welcher an einer standfesten dreibeinigen Vorrichtung mittels einer dicken Kette befestigt ist, künftig nennen werde. Das Ding erinnert mich nämlich extrem an den Kessel des gallischen Druiden Miraculix, oft und gerne habe ich die Comic-Abenteuer von Asterix und Obelix gelesen. Genau wie fast jede Person, die ich kenne.
In diesem Kessel brodelte jedoch kein Zaubertrank, vielmehr köchelte da ein dickflüssiger, sämiger Eintopf aus Kartoffeln, Fleischstücken und verschiedenen Gemüsesorten lecker duftend vor sich hin. Erst der unverhoffte Kaffee, und jetzt das! Ich beglückwünschte mich innerlich ausgiebig zu meiner klugen Entscheidung, hierher zu ziehen. Diese kulinarischen Highlights hätte ich sonst unweigerlich verpasst. Es mussten anscheinend auch andere Mitbewohner ihre allerletzten Vorräte von zu Hause mitgebracht und zur Verfügung gestellt haben.
Seit sich dieser für die Technik so destruktive EMP ereignet hat, habe ich sowieso den Eindruck, als hätten in mein vorher recht eintöniges Leben mehr Kontraste, mehr Höhen und Tiefen Einzug gehalten.
Innerhalb dieser wenigen Stunden, die seither vergangen sind, war ich wechselweise mit Hunger, Angst, Freude, Genuss, totaler Erschöpfung und Kameradschaftsgeist konfrontiert worden. Allesamt starke Emotionen und Erlebnisse, die zuvor in meinem Leben ziemlich unterrepräsentiert gewesen