EMP. Andrea Ross
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу EMP - Andrea Ross страница 15
Gestern klopfte ich also behutsam an die Terrassentür meiner Eltern; schon durch die Scheibe bemerkte ich, dass beide mit versteinerten Gesichtern auf der Couch saßen und deprimiert dreinsahen. Freilich, die beiden sind in ihrem Alter nicht mehr sehr beweglich und verbringen daher normalerweise täglich viel Zeit vor dem Fernseher, welcher jetzt jedoch nicht mehr funktioniert.
Sich unterhalten können sie ebenfalls nicht. Mein Vater vermag seit seinem Schlaganfall nicht mehr zu sprechen, weil das Sprachzentrum im Gehirn damals schwer getroffen worden ist. Da hat tragischerweise auch eine jahrelange logopädische Behandlung keinerlei Verbesserung zeitigen können. Oft schon stürzte mein Vater deswegen in den Zustand einer tiefen, lähmenden Verzweiflung ab, aus dem man ihn nur mühsam wieder hervorholen konnte.
Als Alexandra und ich meinen Eltern schließlich Gesellschaft leisteten und ihnen von unserem neuen Camp-Leben erzählten, heiterte sich deren Stimmung sichtlich auf. Ich schlug ihnen vor, doch möglichst den Versuch zu starten, etwas Ähnliches mit der Nachbarschaft aus dem hiesigen Wohnblock ins Leben zu rufen. Dann könnten die Menschen gegenseitig aufeinander sehen, keiner wäre in seinem Elend alleine gelassen.
Zuerst hatte meine Mutter ein paar Bedenken, weil sie einige der Nachbarinnen nicht leiden mochte. Aber dann stellte sie immer mehr Fragen, wie wir denn gewisse Unstimmigkeiten überbrückt hätten. Mein Vorschlag ist zumindest auf fruchtbaren Boden gefallen, und das finde ich beruhigend.
Wir erfuhren, dass gestern überall im Wohnblock Soldaten an die Türen geklopft hatten, um der Bevölkerung eine wichtige Mitteilung zu machen. Ab morgen Abend gelte bis auf weiteres eine nächtliche Ausgangssperre, weil inzwischen der Notstand in Deutschland verhängt worden sei.
»In Deutschland? Bist du dir sicher, dass der Soldat wirklich ›in Deutschland‹ gesagt hat?«, fragte ich meine Mutter eindringlich. Sie nickte nur traurig.
Zum Schluss ließ ich mir von Mama noch die Vorräte in der Speisekammer zeigen; ich wollte sichergehen, dass diese in den nächsten Tagen noch nicht zur Neige gehen würden. Doch es verhielt sich genauso, wie ich es mir schon gedacht hatte: Die Generation aus dem Zweiten Weltkrieg ist offensichtlich noch immer in der Gewohnheit gefangen, Lebensmittel für den Notfall zu horten. Was ich früher mitleidig belächelt hatte, das stellt sich nun als vorausschauendes Handeln heraus. Nein, verhungern werden die beiden noch lange nicht!
Beim Abschied drückte ich meine Eltern so lange an mich, wie ich es seit der Kindheit nicht mehr getan hatte. In solchen Krisensituationen rücken Familien anscheinend trotz aller Differenzen automatisch wieder näher zusammen, weil sie sich gegenseitig brauchen. Blut ist eben doch dicker als Wasser!
Ich musste meine Mutter mit Nachdruck daran hindern, uns noch eine Art von gut gefülltem »Care-Paket« für den ach so weiten Nachhauseweg ins Rathaus II zusammenzustellen. Ich flunkerte halbherzig, dass wir mehr als genug Lebensmittel zur Verfügung hätten, sie sich also keine Sorgen zu machen brauche. Mit trotziger Miene drückte sie aber dennoch jeder von uns eine Salami in die Hand, bevor wir gehen durften.
Alexandra und ich traten den Rückweg an; wieder war mir stellenweise nicht ganz wohl in meiner Haut, denn wir gewahrten beispielsweise in einer Seitenstraße ein Grüppchen von Jugendlichen, welches anscheinend etwas Verbotenes im Schilde führte. Viele Augenpaare verfolgten uns aufmerksam, bis wir aus dem Blickfeld verschwunden waren.
Unsere Salamis hatten wir vorsichtshalber rechtzeitig unter den Jacken verschwinden lassen, um bloß keine Begehrlichkeiten zu wecken. Außerdem hielt ich das Döschen mit dem Pfefferspray in der Hosentasche fest umklammert, um es im Notfall schnell einsatzbereit zu bekommen. Diese Tage der Neuordnung bergen neben positiven Erfahrungen auch beängstigende Schattenseiten, das ist leider unübersehbar.
Ja, und zu Hause habe ich dann gleich an diesem Bericht weitergeschrieben, während Alexandra Peter von der angeblich deutschlandweiten Inkraftsetzung einer Nacht-Ausgangssperre berichtete. Wie schnell doch die Tage verfliegen! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich Langeweile anfühlt.
*
Donnerstag, 20. Februar 2020
Jeder einzelne Tag bringt etwas Unvorhergesehenes, worauf wir aus der Situation heraus kreativ und vor allen Dingen unmittelbar reagieren müssen. Da ist besonnene Diplomatie genauso gefragt wie Einfallsreichtum, welcher auch noch auf die Sekunde genau abrufbar sein muss.
Heute sind wir beispielsweise haarscharf an einer Räumung unseres Rathaus-Camps vorbeigeschrammt. Hätten wir unseren Anführer Peter nicht gehabt, so wäre sicherlich einiges schief gegangen.
Es ist schon merkwürdig! Nie haben wir den schmächtigen und körperlich eher kleinen Peter zum Anführer gewählt oder ihn in irgendeiner Form mit dieser schwierigen Aufgabe betraut. Er ist ganz natürlich von Anfang an in diese anspruchsvolle Rolle hineingewachsen, besitzt eindeutige Führungsqualitäten, die jeder in unserer aus der Not geborenen Zweckgemeinschaft wie selbstverständlich anerkennt.
Dabei hat er bis vor einer Woche in seiner Eigenschaft als Beamter niemals eine leitende Position bekleidet, er verhielt sich eher unauffällig und tat seinen Dienst gerade so nach Vorschrift. Katastrophen wie diese scheinen die wahren Talente der Menschen zuverlässiger ans Tageslicht zu bringen, als jeder hoch dotierte Selbstfindungskurs. Auch dann, wenn diese Fähigkeiten zuvor ein ganzes Leben lang tief in der Persönlichkeit vergraben unauffällig geschlummert haben, der Inhaber selbst nichts von seinem Glück geahnt hat.
Nach dem Morgenkaffee nebst kleinem Frühstück saßen wir heute wie gewohnt in der Lobby zusammen, um über legale Möglichkeiten der Lebensmittelbeschaffung nachzudenken. Die Vorräte schmelzen bereits sichtbar dahin, wir müssen unbedingt rechtzeitig für Nachschub sorgen.
Wir kamen nach kurzer Diskussion überein, zunächst die Innenstadt zu rein informativen Zwecken aufzusuchen. Es muss in einem ersten Schritt abgeklärt werden, was dort aktuell vor sich geht, wie sich die Dinge in der Zwischenzeit entwickelt haben. Wir planten also zum Auftakt eine Art »Katastrophen-Stadtbummel«. Sind nach der ersten Orientierungslosigkeit womöglich sogar Apotheken, Arztpraxen, Banken oder Supermärkte provisorisch wieder geöffnet? Ist Geld als Zahlungsmittel überhaupt noch im Umlauf, oder hat bereits der Tauschhandel Einzug gehalten? All diese Fragen galt es abzuklären, bevor man weitere Pläne schmieden konnte.
»Wenn wir nachher alle gemeinsam losziehen, dann nimmt bitte jeder seine gesamten Geldbestände in bar mit, welche er noch in Besitz hat. Falls Geschäfte geöffnet haben sollten, dann müssen wir nämlich so viel als möglich ergattern, bevor die Warenbestände endgültig ausverkauft sind. Mit Nachschub ist schließlich nach Lage der Dinge nicht wirklich zu rechnen!«, verfügte Peter nach einer kurzen Denkpause.
»Sollten Bankfilialen wider Erwarten Bargeld herausrücken, müssen zusätzlich die Girokonten geleert werden. Mein eigenes selbstverständlich auch! Das Sparen können wir uns momentan sparen!«, versuchte er sich an einem sarkastischen Witz.
Ich sinnierte betroffen vor mich hin, sagte in Gedanken meinen komplizierten Finanzplanungen adieu. Was hatte ich mir von meiner angesparten Kontoeinlage nicht alles kaufen wollen! Nach heutigen Verhältnissen lauter sinnloses Zeug, auf das ich da meine Zeit und Energie verschwendet hatte. Mein Blick glitt verträumt zur großen Glasfront hinaus, als ich mir diese Extravaganzen bildlich vorstellte, welche mir den bis dato tristen Alltag zwischendurch versüßen sollten. Doch plötzlich war ich