Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke
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Wenn wir den Liberalismus nicht als eine Ideologie verstehen, deren Grundsätze gleichsam in Stein gemeißelt sind und an deren ewige Wahrheiten lediglich in verschiedenen Lagen zu erinnern ist, sondern als ein wandelbares, konstellationsabhängiges Denken, das Lern- und Transformationsprozessen unterworfen ist, dann lassen sich als langfristige Wirkungen der demokratischen Revolution von 1918 für die 1920/30er Jahre womöglich drei wichtige Gebiete aufzeigen, auf denen es zu neuen liberalen Positionsbestimmungen kam:
1. Kapitalismus und Demokratie: Die Debatte um die politische Gestaltbarkeit der Ökonomie war eine der fruchtbarsten und bewegtesten nach 1918; sie ergriff die liberale Nationalökonomie ebenso wie sie Brücken zwischen demokratischen Sozialisten und Sozialliberalen schlug. Von Weber bis Schumpeter glaubte man einen nahezu unausweichlichen Zeittrend zum Sozialismus diagnostizieren zu können. Wie konnte man ihn abfedern, lenken oder gar mit kapitalistischen Überlegungen in Einklang bringen? Wie ließ sich die Dynamik der Industriemoderne zum Wohl breiter Bevölkerungsschichten nutzen? Die Antworten darauf waren vielfältig – von den allfälligen Sozialisierungsdebatten seit der Novemberrevolution (sogar Konservative und Liberale nahmen die Forderung nach der Sozialisierung von Schlüsselindustrien in ihre Parteiprogramme auf) bis zu den Diskussionen über einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Natürlich gab es weiterhin standfeste Wirtschaftsliberale wie den Wiener Ludwig von Mises, dessen Bücher über die Gemeinwirtschaft (1922) und über Liberalismus (1927) bis heute als Schlüsseltexte des Marktliberalismus gelten.27 Aber sogar Mises sah die Demokratie als günstigste Regierungsform für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem an. Moderner und pragmatischer gab sich der 1873 in Frankfurt geborene, aus einer alten jüdischen Bankiersfamilie stammende Nationalökonom Moritz Julius Bonn. Der anglophile Liberale, der übrigens 1925 ein hellsichtiges Buch über die Krisis der europäischen Demokratie verfasste, wollte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft ein umfassendes Amerikanisierungsprogramm verschreiben. „Demokratischer Kapitalismus“ hieß seine Zauberformel.28 Damit war gemeint, dass das Wirtschaftssystem sich über seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand zu rechtfertigen hatte. Kurz: Nur wenn der Kapitalismus den breiten Bevölkerungsschichten zugutekomme, verdiene er sich seine Legitimität. Für Bonn war damit die – wie man neumodisch sagen könnte – Output-Seite eines demokratischen Kapitalismus entscheidend: seine Konsumentenorientierung, seine Innovationsfähigkeit und seine Gewährleistung sozialer Durchlässigkeit. In seinen Büchern, Broschüren, Aufsätzen und Leitartikeln, die in den großen liberalen Organen seiner Zeit erschienen, griff Bonn denn auch hauptsächlich die Kartellierungstendenzen in der deutschen Industrie an, kritisierte die Bestrebungen der Wirtschaftseliten, sich den Einflüssen demokratischer Politik zu entziehen. Bonn hatte frühzeitig einen Modus industrieller Interessenpolitik identifiziert, der dazu führte, ökonomische Gewinne zu privatisieren und Verluste zu verstaatlichen. Sein Plädoyer für hohe Löhne, ja sogar seine Anregung von Mindestlöhnen zur Steigerung der Kaufkraft zeigten außerdem an, dass er sich bereits deutlich jenseits der rein wirtschaftsliberalen Konzeptionen bewegte.29 Ins breite Spektrum der liberalen Wirtschaftskonzeptionen gehören auch die später so bezeichneten Ordoliberalen, eine recht heterogene Gruppe von Ökonomen, zu denen vor allem Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zählten. Sie gaben Impulse für eine neuliberale Ordnungsökonomik, die die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien. Freilich sahen insbesondere Eucken und Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft eher als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie kaum Sympathien.
Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen.30
Es scheint mir wichtig, vor allem die Heterogenität dieser Gruppe zu betonen, die dann in der Bundesrepublik so einflussreich werden sollte, weil sie den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft mit begründete. Eucken kam aus national-konservativem Milieu und hatte mit der Weimarer Republik anfangs wenig im Sinn: sein politischer Weg ist ein Lernprozess, der ihn über die Begeisterung für liberale Wirtschaftstheorie langsam in die moderne Demokratie führte; Rüstow stand ursprünglich sozialistischen Positionen um Franz Oppenheimer nahe, machte aber bereits in Weimar Karriere als Lobbyist und gehörte zum Schattenkabinett Kurt von Schleichers; eigentlich war nur Röpke zu Weimarer Jahren schon als politischer Liberaler anzusehen. Die in den letzten Jahren populär gewordenen, sehr gegensätzlichen Interpretationen des Ordoliberalismus zeigen die Schwierigkeit, diese Ökonomen politisch zu interpretieren: So gibt es einerseits Foucaults Lesart von einer neuen ordoliberalen Regierungstechnik (Gouvernementalität), die still und leise dem Liberalismus all seine normativen Elemente nimmt und den Freiheitsbegriff eliminiert.31 Andererseits hat Philip Manow versucht, die vormodernen Sittlichkeitsvorstellungen und die Elemente einer christlichen Ethik im Denken der Ordoliberalen herauszustellen, die es fraglich erscheinen lassen, hier überhaupt noch von Liberalismus zu reden.32
Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins die Weimarer Liberalen waren, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf The Good Society von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus.33 Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären Lippmann-Colloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten.34
2. Antitotalitarismus: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie.35 Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert werden, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator jenseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. Die Haltung zum Faschismus wurde zum Lackmustest für liberale Standhaftigkeit.
3. Wehrhafte Demokratie: Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, rückte von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z.B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt.36 Loewenstein