Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke
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Seine Ausnahmestellung als universalhistorisch denkender Soziologe, der von der Landwirtschaft zum Börsenwesen, vom antiken Judentum zum Konfuzianismus, von der Musiksoziologie bis zur Wissenschaftstheorie eine ungeheure Vielfalt an Themen erforschte, ließ es lange unmöglich erscheinen, den „ganzen Weber“ ins Blickfeld zu bekommen, zumal die Widersprüche seiner vielfach gebrochenen bürgerlichen Existenz kaum ins Bild des Rationalitätsdenkers und unerbittlichen Realisten zu passen schienen. Erst der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis unternahm es in seinem Spätwerk, Max Webers Fragestellung (1987) als biographisch existentielles Problem in den Mittelpunkt zu rücken. 2005 erschien dann – acht Jahrzehnte nach Marianne Webers „Lebensbild“ ihres Gatten – die erste wissenschaftliche, wahrlich fulminante Biographie von Joachim Radkau, der eine charakterologische, psychologisch sensible und kulturgeschichtlich eingebettete Deutung Webers lieferte. Radkau machte den Olympier menschlich, leuchtete neben dem Werk die Abgründe seiner Psyche und Süchte ebenso aus wie Webers komplizierte erotische Natur zwischen Kameradschaftsehe und späten erfüllenden Liebesaffären.
In Webers Lebensspanne fiel die Sturzgeburt der Industriemoderne in Deutschland. Die groß- und bildungsbürgerlichen Werte, die seine Erziehung prägten, verloren in einem nervösen Zeitalter des Wandels rasch ihre Orientierungskraft. Weber litt zwar an der Krise des Bürgertums, das trotz seiner ökonomischen Machtstellung im Kaiserreich in politischer Passivität verharrte. Aber er beließ es keineswegs beim Ressentiment – wiewohl er als junger Mann mit der politischen Rechten flirtete und dem nationalistischen Alldeutschen Verband eine Zeit lang angehörte –, sondern stand auf dem Boden der Moderne. Er knüpfte enge Bande mit führenden linksliberalen Köpfen wie Friedrich Naumann und Lujo Brentano, um sich für politische und gesellschaftliche Modernisierung einzusetzen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges riss ihn die patriotische Welle zunächst mit, aber Weber ernüchterte schnell und gehörte bald zu den wichtigsten Kritikern der Monarchie, prangerte ausufernde Kriegsziele an und setzte sich für Parlamentarisierung und Demokratisierung ein. Als prominenter Beiträger der Frankfurter Zeitung, Mitbegründer der liberalen DDP und Vordenker der Weimarer Verfassung war er eine Galionsfigur der politischen Erneuerung. Auf die Politik wirkte er als Ideengeber, als Politiker scheiterte er hingegen kläglich. Dem Verfechter eines unerbittlichen Realismus fehlte jedes Gespür für parteitaktische Manöver und strategisches Handeln, sein Temperament ließ sich schwer zügeln. Die Autorität seiner politischen Urteilskraft blieb davon jedoch unberührt. Weber hinterließ nach seinem frühen Tod an den Folgen einer Lungenentzündung im Sommer 1920 bleibenden Eindruck bei einer Reihe jüngerer Gelehrter wie Theodor Heuss, Karl Jaspers, Karl Loewenstein, Karl Löwith, Helmuth Plessner oder Carl Schmitt. Seine Elitentheorie der Demokratie, die Parteienwettstreit und Parlamentarismus als Methode der geeigneten Führerauslese wertschätzte und am Ende seines Lebens eine Wendung zum plebiszitär legitimierten charismatischen Führer nahm, lieferte Argumente für Vernunftrepublikaner, die sich nicht umstandslos von der Vorstellung eines personalen Regiments lösen konnten. Die durch Direktwahl bedingte starke Stellung des Reichspräsidenten im Verfassungsgefüge der ersten deutschen Demokratie verdankt sich nicht zuletzt den Vorstellungen Webers. Aber war er deswegen der Ahnherr des plebiszitären Führerstaates?
Die Fragen, wie sich Weber in den bewegten Jahren der Weimarer Republik positioniert und wie er sich gegenüber dem Nationalsozialismus verhalten hätte, haben von jeher die Phantasie der Ideengeschichte angeregt. In der Phase einer kritischen Aufarbeitung des deutschen Sonderwegs überwog die Verurteilung von Webers Nationalismus und die Skepsis, ob sein Einfluss auf das politische Denken in Deutschland denn so segensreich war. Wolfgang Mommsen hatte in seiner bahnbrechenden Studie über Max Weber und die deutsche Politik (1959) seine Orientierung am nationalen Machtstaat und die damit einhergehende Vernachlässigung demokratischer Grundwerte herausgearbeitet. Damit benannte er einen wunden Punkt: In der Tat lässt sich bei Weber kaum etwas für eine normative Theorie der Demokratie lernen, und seine kühle Diktion favorisiert die charismatischen Entscheider, verzichtet aber weitgehend auf moralische Leitlinien, partizipative Elemente und eine Aufgabenbestimmung des sozialen Rechtsstaates. Der junge Jürgen Habermas konnte anlässlich der Tagung zum hundertsten Geburtstag im Jahr 1964 noch von der unheilvollen Wirkung eines „militanten Spätliberalismus“ sprechen und kam nicht daran vorbei, „daß Carl Schmitt ein legitimer Schüler“ beziehungsweise, wie er sich verbesserte, „ein ‚natürlicher Sohn‘ Max Webers“ war.
Der Umgang mit Weber hat sich deutlich entspannt. Derjenige, der in überzogener Drastik die Verantwortungsethik gegen die Gesinnungsethik absetzte – und selbst von politischer Leidenschaft getrieben blieb –, wird nun nicht mehr über Gebühr zur Verantwortung für Deutschlands Weg in die Katastrophe gezogen. Wie unsinnig eine derartige Personalisierung wäre, kann man übrigens bei Weber lernen. Er hatte stets auf die Kulturbedeutung von Religion, Ideen und Ideologien gepocht, die eben in sozialen Formationen wirksam werden, aber nicht als Schöpfung großer Einzelner zu begreifen sind. Webers Leben bietet – das läßt ihn neben Thomas Mann noch einmal als einen der letzten großen Vertreter des klassischen Bürgertums erscheinen – den Stoff für einen Bildungsroman. Auch die neueren Biographien von Jürgen Kaube und Dirk Kaesler präsentieren Weber als eine Person, deren übersensibler und wacher Intellekt die Spannungen eines Zeitalters sichtbar macht. Er muss Abschied nehmen vom klassenbewussten großbürgerlichen Hochmut und geht im Laufe seines Lebens auf Abstand zu den forschen Generalisierungen eines bornierten Wilhelminismus. Die Komplexität der Moderne ist für ihn nur durch eine gedankliche Anstrengung zu erfassen, die Ambivalenzen und Widersprüche verarbeitet, wo das Gute, Heilsbringende zugleich problematisch wird und der Mensch immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Kompensation und der Korrektur von unerwarteten Nebenfolgen bleibt.
Webers tragisches Pathos fasziniert uns hundert Jahre später immer noch. Gutmenschentum, Moralismus und Idealismus verachtete er zwar mit übertrieben anmutender rhetorischer Härte – nichts war ihm verhasster als der politisierende „Literat“ –, aber seine Frage nach den Freiheitsräumen des Einzelnen, dessen Schicksal unentrinnbar dem Kapitalismus und den bürokratischen Staatsapparaten ausgeliefert war, bleibt von evidenter Aktualität. Die sich akkumulierenden Sachzwänge der industriellen Massengesellschaft hat er als gelehriger Leser von Karl Marx früh gesehen, und er war umsichtig genug, die politischen Konflikte nicht allein aus materiellen Interessen und den Produktionsverhältnissen zu erklären. Aber was blieb dem Individuum aus Webers Sicht übrig? Heroische Selbstbehauptung, die Wahrung eines letzten persönlichen Entscheidungsraumes oder ein Restbestand von demokratischer Freiheit, die in der „Unterordnung unter selbstgewählte Führer“ bestünde? Sein rettender Glaube richtete sich auf den charismatischen Politiker, der tatsächlich noch zur Entscheidung und politischen Führung in der Lage sein sollte. Schon Joseph Schumpeter hatte sich von dieser Erlösungssehnsucht entfernt und seine „realistische Demokratietheorie“ im Sinne eines marktkonformen Konkurrenzmodells entwickelt, in dem oberflächliche Werbungsmechanismen die letzten Wertentscheidungen, die Weber so wichtig waren, verdrängten.
Webers Platzierung im (spärlich besetzten) Pantheon des deutschen Liberalismus zeigt uns auch, dass das Verständnis von Politik stetiger Historisierungsanstrengungen bedarf. Kampf, Wettstreit, Selbstbehauptung – diese heroische Attitüde Webers wirkt im Zeitalter eines politisch korrekten Konsensliberalismus antiquiert. Gleichzeitig machten wir es uns zu leicht, würden wir den Weberschen Tugendkatalog vorschnell entsorgen und seine altertümlich wirkende Frage nach dem „Menschentum“ in der Moderne gleich mit entrümpeln. Die große Frage, wie der Mensch in selbstgeschaffenen Strukturzwängen handlungsfähig und frei zur Entscheidung bleibt, behält ihre Aktualität. Weber mag sich nicht um eine normativ avancierte Definition von Freiheit oder sozialer Gerechtigkeit gekümmert haben; er wollte das So-Gewordensein der modernen Welt begreifen, warb für eine „Realpolitik auf dem Boden des nun einmal unabänderlich Gegebenen“, anstatt auf politische Handlungsempfehlungen aus dem Korsett einer geschlossenen politischen Theorie zu hoffen. Webers politisches Denken ist konstellationsabhängig und kontingenzbewusst, und nachdem der Glaube an die alleinseligmachende Kraft der Theorie, die den Schlüssel zur Lösung der Weltproblem liefern sollte, langsam verpufft ist, wirken auch Webers