Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Jens Hacke
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So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Hinwendung zur Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohungen durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation.
5. Fazit
Die Ereignisse des Jahres 1918/19 werden bisweilen mit der Epochenzäsur von 1989 verglichen. Tatsächlich liegt ein verbindendes Element darin, dass nicht wenige eine vermeintliche Alternativlosigkeit westlicher Werte zu erkennen meinten. Sicherlich, eine solche Sichtweise ignoriert die parallelen zeitgenössischen Hoffnungen, die sich auf den Sozialismus und die Ausbreitung der Revolution stützten. Aber von liberaler Warte aus wähnte man sich mit der Durchsetzung der liberalen Demokratie an einem „Ende der Geschichte“. In einem „Wilsonian Moment“ glaubte man an die Universalisierung des gerade geborenen westlichen Modells, das Demokratie, liberalen Konstitutionalismus und internationale Verständigung im Rahmen des neu zu gründenden Völkerbundes vereinte.38 So lassen sich – in der Vielfalt der Perspektiven – die Weltkriegsniederlage und die damit einhergehende Staatsgründung in ihren Effekten als eine Transformationsphase begreifen. Unter den Bedingungen der Massendemokratie musste der Liberalismus sich gesellschaftspolitisch in einer Weise modernisieren, die einer Neuerfindung gleichkam.
Der ideelle Aufbruch, als der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht zu betrachten ist, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit.
Die Ideengeschichte lässt sich gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen und Anpassungsleistungen verstehen. Aber die Krise der Demokratie, ihre enttäuschten Erwartungen und die politischen Niederlagen in Weimar bewirkten langfristig unstreitig eine umfassende Neujustierung liberalen Denkens. Es beinhaltete ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und den geschärften Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.39
Demokratie, so die aus der fragilen Weimarer Republik gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig, benötigte eine strikte Gewaltenteilung und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel.40 Diese Haltung rief bei wehrhaften Republikanern Widerspruch hervor. Aber auch sie sahen, dass Republik- und Verfassungsschutzmaßnahmen stumpfe Schwerter blieben, solange sie sich nicht auf breite Mehrheiten stützten. Kelsen hatte erkannt, dass die Demokratie ethisch autark war, also ihre Bestandsvoraussetzungen selbst erhalten und pflegen musste. Dazu braucht es die erneuerungsfähige Vision einer demokratischen Gesellschaft, die Erziehung zur Demokratie, alltägliche Einübung ihrer Praktiken, die Pflege ihrer Institutionen und die Sorge um die sozial Benachteiligten.
Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenzielle Ernst der Argumentation nachempfinden. Ihre Einsichten bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist.
Max Weber – Interpret der Moderne an der Schwelle zur Demokratie
Der Rang eines Klassikers kommt demjenigen zu, dessen Werk und Thesen genug Denkanstöße liefern, die über die Zeiten hinweg Herausforderungen stellen. Das ist bei Max Weber in hohem Maße und bei anhaltender Wirksamkeit der Fall, und zwar fächerübergreifend. Soziologen, Historiker, Politikwissenschaftler, Staatsrechtler – sie alle verwenden Webersche Terminologien, arbeiten sich an den Kategorien der Herrschaftssoziologie ab, stehen im Schatten von Webers desillusionierter Entzauberung der Moderne, die im Modus von Bürokratisierung und Rationalisierung ihr „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ errichtet hat. Weber erkannte früh, dass sich der Mensch institutionelle und technische Umwelten schuf, die die Handlungsmöglichkeiten des Individuums unentrinnbar bestimmten. Die nachfolgende zweite Soziologengeneration nannte dieses Phänomen in den Fußstapfen Webers „sekundäre Systeme“ oder „Superstrukturen“.
Das eigentliche Faszinosum liegt darin, dass Weber zu Lebzeiten eigentlich gar kein lesbares Buch publizierte. Wer greift heute freiwillig zur Habilitation über die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) oder liest noch einmal mehrhundertseitige Enqueteberichte über die ostelbischen Landarbeiter (1892)? Auch das vor Begriffs- und Typenbestimmungen berstende Großwerk aus dem Nachlass Wirtschaft und Gesellschaft (1922) ist ohne Register kaum zu benutzen, weil nur wenige Leser Webers wissenschaftliche Prosa länger als zehn Seiten durchhalten. Nein, die Klassizität Webers ist nicht einem einzelnen Buch oder seiner stilistischen Brillanz geschuldet, sie liegt in der Eindringlichkeit seines Anliegens und in der Leidenschaftlichkeit seines Fragens verborgen. Weber arbeitete sich durch ungeheure Stoffmassen, versuchte sein Material durch multidimensionale Herangehensweisen zu erschließen und ließ keine einfachen Antworten gelten. Das Berserkertum seines „wühlenden Geistes“ hinterließ kein gerundetes Werk, sondern einen massiven Torso ungebändigter Gedankenfülle. Dabei war er ein Modernisierer und Organisator der Wissenschaft, dem es ungeachtet der politischen Tendenz allein darauf ankam, ob eine These gut begründet und belegt war. Bekanntheit erlangte Weber über die Aufsatzfolge zur protestantischen Ethik, die den Aufstieg des Kapitalismus aus dem asketischen Geist des Puritanismus erklärte. Auch seine späte politische Publizistik trug zur Begründung seines Ruhmes bei, denn in seinen intellektuellen Interventionen machte Weber die Erträge seiner Herrschaftssoziologie für die Überlegungen zu „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ fruchtbar, während seine epochalen Reden zu „Wissenschaft“ respektive „Politik als Beruf“ bis heute ihre Frische bewahrt haben. Knapp vier Jahrzehnte