Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
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Dass die vielseitige Beanspruchung es auch bewirkte, dass M. S. sich Sorgen um die Gesundheit ihres Mannes machte, kann nicht verwundern. Im Rundbuch schreibt sie am 21. Oktober 1930: »Paul wird bei all dem Umtrieb natürlich keineswegs dicker, es ist nur ein Glück, dass seine Nierengeschichte bis jetzt keine Fortschritte macht … Heute erlebten wir eine komische Enttäuschung: Wir hielten ein festes, rundes Kügelchen, das deutlich an Pauls Oberschenkel zu fühlen war, für die Schrappnellkugel, die Paul als Kriegsandenken mit sich rumträgt. Der Arzt auf dem Versorgungsamt schickte heute Paul in die Klinik zur »Operation«, dort haben sie auch geschnitten, aber es war keine Kugel zu finden, die »Kugel« war nur ein kleines Talggeschwulst. Eine Röntgenaufnahme zeigte dann den richtigen Platz. Sie sitzt ganz fest und unverändert am Beckenknochen und muss eben dort sitzen bleiben.«
In diesem bewegten Pfarrersleben hatte die große Politik nicht viel Raum, doch äußerte sich Paul im geschwisterlichen Rundbrief 1932 nach der Beschreibung einer großen Radtour mit einigen Burschen der Gemeinde darüber so: »lm Übrigen bewege ich mich auf viel faulere Weise mit dem Motorrad im gelben Staubanzug fort, den Pfarrer bis zur Unkenntlichkeit verleugnend und von den Kindern und andern begeisterten Hitlerinnen mit den typischen Heilrufen gegrüßt. Wir sind dieser modernen Volksbewegung – ich drücke mich vorsichtig aus, um in unsern geschwisterlichen Kreis keine politische Trennung zu tragen – noch nicht zum Opfer gefallen, sondern halten es viel lieber mit dem gut schwäbischen Gewächs des christlichen Volksdienstes, haben uns treu und offen zu Hindenburg bekannt bei den Wahlen, was mir meine Stellung freilich noch erschwerte und mir eine Beschwerde des Gauführers der NSDAP beim Superintendenten eintrug, sind aber mit Hindenburgs neuesten Taten nicht ganz einverstanden.«
P. S. äußert sich hier im Kreis der Geschwister, Schwägerinnen und Schwäger darüber, wo er derzeit politisch steht. Der Christlich-Soziale Volksdienst (CSVD) war eine konservative Partei, die vom evangelischen Christentum her eine den Erfordernissen der modernen Welt Rechnung tragende Staats- und Sozialpolitik vertrat. Auch gewerkschaftlich-sozialpolitisch orientierte Leute, die von den Deutschnationalen abgesplittert waren, fanden sich in ihr. Im Jahr 1924 hat der Christlich-Soziale Volksdienst, der seine Wurzeln im Berlin der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts hatte, sich mit dem in der evangelischen Bevölkerung Württembergs angesehenen »Christlichen Volksdienst« vereinigt. Der CSVD erreichte bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 immerhin vierzehn Abgeordnetensitze (2,5 Prozent). Er fand aber zu keiner festen Gestalt, erhielt bei der nächsten – der letzten freien – Reichstagswahl am 5. März 1933 nur noch ein Prozent der Stimmen und war dann so gut wie verschwunden.126
Der CSVD bejahte die Weimarer Demokratie. An einer Regierung der Weimarer Republik war er nie beteiligt. Er wollte im christlichen Sinn das Volk versöhnen, statt zu spalten; daher stand er jeweils den verschiedenen demokratisch gewählten Regierungen nahe. An der NSDAP kritisierte er heftig die rassistische Ideologie. In der politischen Arbeit sah er »Gottesdienst und Missionsaufgabe« (Art. 1 der Leitsätze des CSVD). Als Ziel verfolgte er die uneingeschränkte Herrschaft Gottes in Familie, Gesellschaft, Volk, Staat und Völkerleben (Art. 2). In der Kulturpolitik widmete er sich dem Kampf gegen Schund und Schmutz und gegen den Alkoholismus. Wenn sich P. S. zum CSVD bekannte, lag er, obwohl der Christliche Volksdienst in den evangelischen Kreisen Württembergs viele Anhänger hatte, damit doch nicht auf der Normallinie des deutschen Protestantismus, der sich vorwiegend durch die Deutschnationale Volkspartei vertreten sah.127
P. S. erinnert an seine öffentliche Unterstützung von Hindenburg: Im Vorfeld der Wahlen des Reichspräsidenten, die am 13. März und am 10. April 1932 stattfanden (Ergebnis: 53,93 Prozent der Stimmen für Hindenburg, 36,68 Prozent für Hitler, 10,13 Prozent für Thälmann128), nahm P. S. mehrfach öffentlich für Hindenburg Stellung, was ganz auf der Linie des CSVD lag. Das tat er wohl auch, um seinen Gemeinden ein Zeichen zu setzen gegen deren aufkommende Begeisterung für die NSDAP. In Dornholzhausen stimmten nämlich im ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 68,5 Prozent (!) für Hitler, nur 28,3 Prozent für Hindenburg. Spektakulär war Schneiders Stellungnahme, als er vor der Wahl zusammen mit einem gegenüber wohnenden Lehrer ein Transparent vom Pfarrhaus zu dessen Haus über die Straße spannte mit der Aufschrift: »Wählt unseren Besten!« Jeder im Ort wusste, wen der Pfarrer meinte.
Über diese Wahlwerbung des Pfarrers beschwerte sich der Stützpunktleiter der NSDAP beim zuständigen Superintendenten Wieber.129 P. S. verteidigte seine Meinungsäußerung für Hindenburg, die er vor allem als eine Auseinandersetzung mit der NSDAP verstand. Er kritisierte die »heidnisch-völkischen Stimmungen« in der NSDAP und nannte in diesem Zusammenhang Alfred Rosenberg, den Verfasser des »Mythus des 20. Jahrhunderts«130. Er monierte »die unchristliche Haltung der Bewegung gegen Altes Testament und Juden«.
M. S. und P. S. pflegten mit aller Selbstverständlichkeit freundschaftlichen Kontakt mit Juden in Hochelheim. Am Sabbat erledigten P. S. oder Familienglieder für die jüdische Nachbarswitwe, Franziska Jordan, die notwendigsten Hausarbeiten, die Juden am Sabbat nicht verrichten dürfen. P. S. hatte sogar einer Jüdin auf deren Bitte hin ihr hebräisches Gebetbuch ins Deutsche übersetzt.131
Die Stellungnahme P. S.s zur Wahl zeigt, dass er immer weniger die strikte Trennung zwischen Kirche und Politik vertrat, die für viele Evangelische aus Luthers Lehre folgte.
Der Superintendent von Wetzlar gab dem Stützpunktleiter die Auskunft, er sehe keinen Anlass zu einem dienstlichen Vorgehen gegen Pfarrer Schneider. In einem Brief an P. S. kritisierte er jedoch, dass »Sie sich in die politische Wahlagitation tiefer eingelassen haben, als es der Stellung des Geistlichen dienlich ist.«132
Inwiefern war P. S. »mit Hindenburgs neuesten Taten nicht ganz einverstanden«? Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht, wie viel Raum Hindenburg den Nationalsozialisten gab in der Meinung, er könne sie zügeln, indem er sie in die Regierungsverantwortung einbinde.
Ganz im Sinne des CSVD fährt P. S. im Rundbuch fort mit der Klage:
»O des unseligen Parteigeistes! 133 der sich so versündigt am Volksganzen von hüben und drüben. Wo sind die gerecht urteilenden christlichen Gewissen, die weder vom Nationalismus noch vom Sozialismus, sondern vom Evangelium her die Maßstäbe für ihr politisches Handeln gewinnen? Aus dieser Quelle bezieht sie aber der Nationalsozialismus auch noch nicht; wird er dann wirklich die beiden Pole vereinigen und unser Volk der sittlich-religiösen Erneuerung entgegenführen können, deren es so dringend bedarf?« – Im Februar 1933 schreibt er, an einer Lungen- und Rippenfellentzündung schwer daniederliegend: »Heute deutscher Abend mit deutschem Tanz. Ob das nun ein anderer Tanz ist als der gewöhnliche? Aber zu Lichtbildervorträgen, Bibelstunden lädt man das Gros der Leute vergeblich ein. Was sind unsere evangelischen Gemeinden? Und doch sind es Gottes Zeiten und hat Gott sein Werk irgendwie unter uns, daran gilt es festzuhalten und fröhlich vorwärts zu glauben.«
Ehe wir Paul Schneiders Weg in Hochelheim weiterverfolgen, wollen wir uns an die politischen Ereignisse in Deutschland am Vorabend des Dritten Reiches und im Jahr 1933 erinnern. In immer stärkerem Maß wurde Deutschland von der Weltwirtschaftskrise von 1929 betroffen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 2,8 Millionen im Jahr 1928 auf 6,3 Millionen im Jahr 1933.134 Von der staatlichen Arbeitslosenunterstützung konnten die wenigsten ihre Familie ernähren. Hitler versprach »Arbeit und Brot«, suchte in den Juden die Schuldigen und kündigte den gnadenlosen Kampf gegen das Judentum an. Immer mehr wurde Hitler zum »Führer« der Enttäuschten. So kann es nicht verwundern, dass seine Partei bei der Wahl des neuen Reichstags am 31. Juli 1932 von zwölf auf hundertsieben Mandate (!) zulegte. Am