Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig
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Wiens »Grätzeln« möbeln auf
Vom Freihaus- zum Karmeliterviertel, vom Franziskaner- zum Schleifmühlviertel ziehen diese ursprünglich alten Dörfer vor den Toren der historischen Innenstadt Reisende wie auch Besucher von anderen Bezirken an. »Grätzeln« umfassen manchmal nur einige Häuserblöcke und haben fließende Grenzen. Sie werden deshalb populär, weil in ihren Hinterhöfen nette Lokale, Galerien und Bars aufsperren.
Wien schlummerte bis in die frühen 1980er-Jahre im Dornröschenschlaf dahin. Zu schwer lastete der eine Stunde vor der Stadt beginnende Eiserne Vorhang auf der Donaumetropole. Aber dann kam die »Waldheim-Affäre«, und die Stadt stellte sich ihrer Vergangenheit. Der Eiserne Vorhang wurde 1989 ebenfalls hochgezogen. Wien begann, sich punktuell als »Event City« zu positionieren. Das »Bermudadreieck« um die Ruprechtskirche, Wiens ältestes Gotteshaus, und die Synagoge in der Seitenstettengasse verschlang jedes Wochenende Tausende von Jugendlichen, die auf der Suche nach gutem Bier und cooler Musik hier gekentert waren. Und auf einmal wurden sich die Wiener bewusst, welch großen Nachholbedarf sie hatten. Das Donauinselfest entlang dem neu geschaffenen Entlastungsgerinne startete im Jahr 1983 als musikalischer Versuchsballon. Mit fast drei Millionen Besuchern avancierte es zum größten Freiluftspektakel in ganz Europa.
Mit der Neujahrsnacht verhielt es sich ähnlich. Als Bürgermeister Helmut Zilk den Jahreswechsel 1989/90 in Wien verbrachte, musste er mit Schrecken feststellen, was die Stadt ihren Gästen zu Silvester bot: »Nur Hunger und Glasscherben.« Alle Restaurants ließen nach Weihnachten ihre Rollläden herunter. Wenn Reisende also an Mitternacht das Neue Jahr mit dem Klang der Pummerin am Stephansplatz einläuten wollten, fanden sie erstens nichts zu essen und zu trinken und zweitens mussten sie aufpassen, dass sie nicht auf den Scherben von Flaschen ausrutschten, die fidele Wiener ins Stadtzentrum mitgebracht und dann fallen gelassen hatten. So entstand die Idee, einen Silvesterpfad durch die Innere Stadt anzulegen. Die Punschhütten hatten schon in der Adventszeit heiße Schwipsgetränke ausgeschenkt. Und nach und nach erkannten auch viele Gastbetriebe in der Inneren Stadt, dass sich bei 700 000 Besuchern ein beachtlicher Umsatz machen lässt. Da Musik im urbanen Leben eine zentrale Rolle spielt, stellte man auch zehn Bühnen an den besten Plätzen der Innenstadt auf.
Der Zuschauerraum der Wiener Oper hat eine tadellose Akustik.
Im Jahr 2001 kam dann noch das Museumsquartier dazu: 60 000 Quadratmeter für die Kunst in unmittelbarer Nähe vom »Kunsthistorischen« und »Naturhistorischen« und der Hofburg. Institutionen wie das Leopold Museum eröffneten hier, das die weltweit größte Egon-Schiele-Sammlung birgt, sowie das Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, in dem die besten Werke österreichischer Nachkriegskunst ein Heim gefunden haben. Aber Besucher schätzen das Museumsquartier nicht nur wegen seines kulturellen Angebots. In der warmen Jahreszeit werden die Innenhöfe zum verlängerten Wohnzimmer.
In Wien tut sich jeden Monat etwas
Kaum eine Woche verstreicht, in der nicht irgendeine Veranstaltungsreihe stattfindet: von »wean hean«, dem Wiener-Lied-Festival, bis hin zu den Tanzwochen, dem Jazz-Fest und den großen Wiener Festwochen, in denen ein wahres Feuerwerk an Theater- und Musikproduktionen über die Stadt hereinbricht.
Als die Habsburgermonarchie in Einzelstaaten zerfiel, galt Wien in den Bundesländern als Wasserkopf, dem Agrarprodukte zugeliefert werden mussten. Das Bild des Wasserkopfes mag auf den ersten Anblick vielleicht erschreckend wirken, doch der Kopf eines Landes kann nicht groß genug sein. Denn ein Hirn braucht ja viel Platz zum Denken. Im 21. Jahrhundert versuchte sich Wien, auch als Zentrum für Wissenschaft und Forschung zu positionieren, als Plattform für kreatives Schaffen. Das »Institute of Science and Technology«, Österreichs erste Eliteuniversität, machte im Jahr 2008 im gleich vor der Stadt gelegenen Ort Gugging seine Pforten auf.
Die Konfiserie »Dürnberger« in der Neubaugasse fertigt ihre eigenen Rumpastillen.
Die Eliteuni liegt im Wienerwald, in der grünen Lunge der Stadt. Auf 105 645 Hektar rankt er sich im Westen und Süden um die Stadt. Wer hier jemals spazieren ging und dann zum Beispiel eine Wanderung in den Green Mountains im amerikanischen Bundesstaat Vermont antrat, wird sich schmerzlich nach Wien zurücksehnen. Nach einer halben oder Dreiviertelstunde bergauf und bergab gibt es allerlei Leckerbissen, die den durch die Sauerstoffzufuhr verursachten Hunger schnell stillen: Leberknödelsuppe, Bauernschmaus, Apfelstrudel und ein Viertel Weiß gespritzt machen auch die müdesten Knochen wieder munter.
»Eine Stadt kann man nicht essen«, sagt die Psychotherapeutin mahnend, wenn eine emigrierte Wienerin darüber nachdenkt, wieso sie beim Heimatbesuch alle traditionellen Delikatessen in sich hineinstopfen will. Aber wer kann es ihr schon verdenken? Schließlich sehen die barocken Kirchenkuppeln wie gewundene Schlagobersgupfe auf einem Windgebäck-Baiser aus, und zu Weihnachten riecht das ganze Zentrum nach heißem Rum und Gewürzen.
Auch für jene, die das ganze Jahr hier leben, ist das »Papperl« (die Mahlzeit) ein wichtiges Lebenselixier. Schon in der Früh wird daran gedacht, was zu Mittag gegessen wird, und am Nachmittag stehen noch die Einkäufe für ein ordentliches Abendessen an. Zwischendurch liegen Verlockungen immer in Reichweite. Wiens Bäckereien haben in den vergangenen Jahren an vielen Standorten Filialen eröffnet. Bei U-Bahn- und Straßenbahnhaltestellen haben sie Verkaufsstände aufgemacht. Ein Punschkrapfen vom »Anker« und ein Rehrücken vom »Felber« lindern den Heißhunger zwischendurch – von den diversen Würstelständen ganz zu schweigen. Und in den Hunderten Restaurants der Stadt wird genau darauf geachtet, was in den Topf kommt. Nur das feinste Rindfleisch für den Tafelspitz und die beste Powidl-Marmelade für die Germknödel.
»Schanigärten« nennen sich die Restaurantterrassen im Freien.
Bewohner der Stadt begegnen Reisenden oft mit ausgesuchter Höflichkeit. Ist es noch ein Erbe der Kaiserzeit, dass Titel eine wichtige Rolle spielen? Der »Herr Ingenieur« hat gerade mal sein Abitur in einer technischen Fachrichtung gemacht, runzelt aber die Stirn, wenn man seine Anrede vergisst. Frauen, die am Standesamt promovierten, bestehen darauf, mit »Frau Doktor« angesprochen zu werden. Aber manchen Verkäufern und Verkäuferinnen kommt es gar nicht in den Sinn, eine Kundin überhaupt zu siezen. Nur die dritte Person ist erlaubt. Bei Nachbestellungen wird deshalb die Frage gestellt: »Darf es noch etwas sein, die Dame?«
Die Wiener haben jedoch eine zärtliche Beziehung zu Objekten, die sich im Laufe des Stadtlebens verdient gemacht haben. Als die Straßenbahnlinie 65 in ein neues Streckennetz überführt und als Nummer 1 wiedergeboren wurde, sagten ihre Schaffner mit einer zentralen Durchsage Lebewohl: »Der Bahnhof Favoriten verabschiedet sich von der 65er-Linie. Viel Glück im neuen Leben!«
Nur auf dem Fußballplatz lassen Wiener überschüssige Energie raus. Das Lokalderby Rapid gegen Austria erhitzt die Gemüter. Wer Schimpfwörter im Wiener Dialekt lernen will, sollte das Gerhard-Hanappi- oder das Ernst-Happel-Stadion besuchen. »Renn doch, du Ohrwaschelkaktus!« ist noch eine feine Ausdrucksweise. »Hau di üba d’Heiser, du Karachl« fällt schon etwas deftiger aus.
Eine Stadt zum Leben
Wien ist eine Wohlfühlstadt. Vermutlich auch, weil die Metropole schon seit Jahrzehnten »rot« ist. Die sozialdemokratische Stadtregierung