Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig

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Das Reisebuch Europa - Jochen Müssig

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großen Söhne der Stadt, vor mehr als 100 Jahren. Bis heute ist Prag eine Stadt voller Magie. Ihr Herz schlägt unter goldenen Dächern, in historischen Kaffeehäusern, Kellerkneipen und im alten Jüdischen Viertel.

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       Ein Einblick ins mittelalterliche Prag bietet der Alte Jüdische Friedhof. Aus Platzmangel begrub man die Verstorbenen in bis zu zwölf Schichten.

      Die kleine Galerie, in der es vergilbte Fotos, neue Grafik und böhmisches Kristallglas zu kaufen gibt, passt zum Burgviertel und seinen engen Gassen. Und die alte Dame, die ein aus der Zeit gefallenes Deutsch spricht und anrührend erzählt von der bitteren Vergangenheit und der lebensfrohen Gegenwart, passt zu diesem Laden. Diese zufällige Begegnung wiederum passt zu Prag, dieser vibrierenden und zugleich an so vielen Stellen melancholisch wirkenden Metropole. Auch das Grand Café Orient, nur ein paar Schritte vom Platz der Republik entfernt, gilt als ein solcher Platz, an dem sich die Zeiten und Welten begegnen. Das Orient, ein Hort des Kubismus und eine Herberge der Nostalgie, ist eines der sechs oder sieben erhaltenen unter den legendären Kaffeehäusern, in denen sich einst die Elite der deutsch-jüdisch-österreichisch-tschechischen Dichter, Denker und Komponisten getroffen hat. Für die Prager Journalistin Bára Procházková bis heute ein inspirierender Ort.

      Aharon Ester gehört zu den engagierten Mitgliedern der kleinen jüdischen Gemeinde von Prag, die einmal eine der größten in Europa war. Der junge Historiker führt Besucher auf dem Friedhof aus dem 15. Jahrhundert zum Grab des Rabbi Löw, einer Symbolfigur des mystischen Prag. Für die Gäste sortiert Aharon Eindrücke aus den sechs Synagogen der Josefstadt, dem ehemaligen Wohnviertel der Juden, er ordnet Stilrichtungen, Jahreszahlen, einstige Bedeutung. In der Pinkas-Synagoge jedoch, vor den Zeichnungen der Kinder aus dem KZ Theresienstadt, die sie kurz vor ihrer Ermordung gemalt haben, bleibt nur stumme Fassungslosigkeit.

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       In goldenem Licht: Nachtspaziergang über die Karlsbrücke.

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       Der Altstädter Brückenturm über dem ersten Brückenpfeiler stammt aus dem 14. Jahrhundert.

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       Das Jan-Hus-Denkmal und die Teynkirche am Altstädter Ring.

       Treffpunkt Wenzelsplatz

      Drei Orte, drei Menschen, die für Prag stehen, für die einzigartige Poesie dieser Stadt und für die Verbindung aus Tragödie, Tradition und neuem Tempo. Und doch sind diese Begegnungen allenfalls Mosaiksteine. Denn das Bild der tschechischen Hauptstadt changiert in vielen Farben: von goldglänzend bis zu jenen dunklen Tönen, die an die Schreckenszeit der deutschen Besetzung und die lange Unterdrückung im kommunistischen System erinnern.

      Sogar in der Josefstadt und am Wenzelsplatz, den beiden bekanntesten Schauplätzen schlimmer Zeiten, hat sich fröhlicher Alltag durchgesetzt. Jugend aus aller Welt turnt auf dem Denkmal des heiligen Wenzel herum, der Ikone für Einheit und Freiheit aller Tschechen. Koschere Lokale wie das King Solomon in der Nähe der Synagogen sind bei den Feinschmeckern der Stadt so beliebt wie andere kreative Küchen. Und die Pariser Straße, der Prachtboulevard des Viertels, hat sich zu einer Meile teurer Boutiquen entwickelt.

       Sightseeing per Straßenbahn

      Drei Tage reichen für das Gesamtkunstwerk Prag kaum aus, obwohl die Stadt kompakt ist mit ihren 1,2 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von gut 500 Quadratkilometern. Die Straßenbahn stellt hier die ideale Ergänzung zum lustvollen Sich-treiben-Lassen dar. Die Tramlinie 22 zum Beispiel verbindet nicht nur einige herausragende Sehenswürdigkeiten zwischen dem Burgviertel auf der Kleinseite, wie das westliche Ufer der Moldau genannt wird, und der Neustadt auf der anderen Seite. Eine solche Fahrt ermöglicht immer auch einen Seitenblick auf den Alltag der Prager.

      Die berühmte Karlsbrücke allerdings, Wahrzeichen und historisches Bindeglied beider Seiten, ist nur Fußgängern zugänglich, und das in der Regel auch nur im gedrängten Miteinander von Pragbesuchern aus aller Welt. Man mag das alltägliche Spektakel auf dieser 520 Meter langen Brücke touristisch nennen. Aber so ein Spaziergang macht einfach Spaß, er gehört zu Prag wie der Fischmarkt zu Hamburg oder die Tower Bridge zu London. Zwischen den Heiligenfiguren auf beiden Brücken wird Jazz geboten, Scherenschneider, Maler, Schmuckdesigner und ein geschätztes Dutzend T-Shirt-Verkäufer lenken kurzfristig vom Blick auf die Moldau und die Türme an ihren Ufern ab: ein sympathischer Rummelplatz mit Traumkulisse.

      Viele Prag-Besucher bringen ihre Klischees mit an die Moldau. Das Folklore-Bild vom kleinen Volk, das sich mit List, Tücke und Humor über schwere Zeiten der Unterdrückung hinweggesetzt hat, manifestiert sich in liebenswerten Figuren wie dem braven Soldaten Schwejk, dem Überlebenskünstler aus Jaroslav Hašeks Schelmenroman, oder dem Vater-Sohn-Duo Spejbl und Hurvínek, holzgeschnitzte Philosophen des Alltags. Was sich heutzutage eher in Werbetafeln vor Schwejkschen Kellerkneipen oder auf Postkarten findet, hat ja über Jahrzehnte tatsächlich einen wesentlichen Teil des Volkscharakters gespiegelt: Mit hintergründigem Humor und einer offenbar angeborenen Pfiffigkeit haben sich die Schwejks, also vor allem die kleinen Leute dieses Landes, durch schwere Zeiten gerettet.

       Symbol der Hoffnung

      Im Frühling blüht die Stadt auf wie zu keiner anderen Jahreszeit. Im Park hinter dem Palais Lobkowicz, der deutschen Botschaft auf der Kleinseite, lassen die üppig-grünen Bäume kaum die Sicht auf den Balkon zu, von dem Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 den 4000 DDR-Flüchtlingen im Garten die Freiheit verkünden konnte: »Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen …« Der Rest seiner berühmt gewordenen Rede ging damals im Jubel der Botschaftsasylanten unter. Ein Fall für die kollektive Gänsehaut.

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       Das Tanzhaus, 1996 von Frank Gehry erbaut, setzt moderne Akzente im historischen Prag.

      Für Bára, die tschechische Journalistin, die in Hamburg Politik und Osteuropa-Kunde studiert hat, ist das alles Geschichte. Sie war damals zehn Jahre alt, heute wirkt sie wie eine moderne Frau, die kosmopolitisch lebt und denkt, eine typische Vertreterin ihrer Generation. Sie liebt Kaffeehäuser mit Patina wie das Orient. Mehr als 100 Jahre nach der ersten Eröffnung und über 20 Jahre nach der Renovierung fühlen sich in Báras Lieblingstreff wieder viele Literaten und Lebenskünstler zu Hause, auch solche, die ihre Zeitung zum Kaffee vorwiegend auf dem Laptop lesen.

       Heimat der Künstler

      Auch das Louvre oder das Slavia, ebensolche Institutionen, die über alle Stürme der Geschichte hinweg die Wohnzimmer renommierter Musiker und Autoren waren, gehören zu Báras Stammlokalen. Dort haben sie, ob Genies oder verkrachte Existenzen, Karten oder Billard gespielt und die Welt verändert, zumindest bis zum nächsten Morgen: Komponisten wie Bedřich Smetana (1824–1884), Dichter wie Rainer Maria Rilke (1875–1926) und natürlich Franz Kafka (1883–1924). Mit seiner Geburtsstadt verband Kafka zeit seines kurzen Lebens eine ambivalente Liaison. »Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen«, hat er schon als 19-Jähriger behauptet.

      Der

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