Das Reisebuch Europa. Jochen Müssig
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Wirrwarr am Weichselufer
»Eine seltsame Stadt, voller Unordnung, aber auch voller Stolz und voller Widersprüche«, hat die populäre Schauspielerin Agnieszka Grochowska über ihre Heimatstadt gesagt.
Drei Tage reichen kaum, um sich durch das städtebauliche Wirrwarr treiben zu lassen, durch die neue Altstadt, die nach der totalen Zerstörung liebevoll wieder aufgebaut wurde, über den alten Königsweg, der vom Schloss durch die Vorstadt nach Süden führt, vorbei am Uni-Campus, an Nobelhotels, die heute so verheißungsvoll glänzen wie zuletzt vor fast 100 Jahren.
In Saska Kepa, einem In-Viertel auf der östlichen Seite der Weichsel, hat sich flirrendes Leben entfaltet, in hippen Bars, Multikulti-Restaurants und Boutiquen. Und nicht weit entfernt liegt das idyllische Altstadt-Gewirr, Lieblingsrevier der Touristen, das sie gern aus dem Fiaker heraus fotografieren. Weiter im Norden befanden sich die einstigen jüdischen Wohnviertel, dort waren auch das Getto und der »Umschlagplatz«, von dem die Transporte in die Vernichtungslager abgingen; er hat seinen schrecklichen deutschen Namen behalten. Ein paar Schritte entfernt steht das neue gläserne Museum der polnischen Juden.
Königsroute und historischer Kniefall
Kontraste: Hier die Karmeliterkirche am Trakt Królewski, der Königsroute, ein Gotteshaus, das wie aus Italien versetzt wirkt und tatsächlich nach Bildern von Canaletto wieder aufgebaut wurde, weil es keine Bauzeichnungen mehr gab. Dort der »Constitutionsplatz«: Häuser aus kommunistischer Zeit, die an das alte Ostberlin erinnern. Zwei Trambahn-Stationen weiter südlich hängt Jung-Warschau in Kneipen mit alternativem Flair ab. Und, schier unglaublich, die Ferrari-Vertretung hat sich im ehemaligen Büro der kommunistischen Arbeiterpartei breitgemacht.
Warschau, mit 1,7 Millionen Einwohnern halb so groß wie Berlin, nimmt nicht einen der ersten Ränge im europäischen Städtetourismus ein. Die Vergangenheit ist bitter, und an vielen Orten sind die Narben und die Mahnungen gegenwärtig. Aber die Lebensfreude von heute und das Kulturleben können es mit jeder anderen Metropole in Mitteleuropa aufnehmen: die Jazzszene, die Theater, die Filmfestivals und Chopin-Wettbewerbe ziehen hochkarätige Künstler an. Ein wichtiger Ortstermin steht noch aus: Hinter dem Jüdischen Museum versteckt sich ein kleines Relief, das den damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) bei seinem Kniefall im Dezember 1970 am Mahnmal für die Opfer des Gettos zeigt. Eine sehr alte Dame sitzt auf einer Bank davor. Sie lächelt: »Viele Leute kommen nicht hierher. Es ist eine neue Zeit, es geht uns gut. So möge es bleiben für immer!«
Die Sigismundsäule auf dem Schlossplatz erinnert an den König, der Warschau 1596 zur Hauptstadt erklärte.
TOP
Eigentlich ist Praga ein »Schmuddelkind«, das Lieblingsquartier der alternativen Szene, aber längst auch von Besuchern aus aller Welt entdeckt und frequentiert. Im Stadtteil auf dem rechten Weichselufer vermuteten noch vor nicht allzu langer Zeit manche Hauptstädter »den fernen Osten«. Der Name geht auf das slawische Wort für Brandrodung zurück. Ausgangspunkt eines Kiezbummels kann der »Rozycki-Basar« sein, nahe der Metrostation Wilenski. Direkt nebenan hat 2014/2015 das Museum von Praga eröffnet, eine Art Außenstelle des Historischen Museums Warschau. Es zeigt in drei Gebäuden, ergänzt durch einen Beton-Neubau, die Entwicklung der östlichen Stadtviertel, gewissermaßen den Hinterhof der Metropole. Alte Werkstätten, eine ehemalige Synagoge und ein gemütliches Café komplettieren das Ensemble. Zu Praga gehören, neben Musikkneipen und Off-Theatern auch die Florians-Kathedrale mit ihren beiden hohen Türmen und der Zoo.
WEITERE INFORMATIONEN
Bronzetafel zum Kniefall des Bundeskanzlers von 1970, einer Geste zur Versöhnung mit Polen.
TRAUMSTRASSEN
Mit dem Wohnmobil nach Podlachien
Polen gehört zu den beliebtesten Auslandsreisezielen der Deutschen und klettert in der Rangliste weiter nach oben in Richtung Top Five. Eine attraktive Wohnmobilreise führt durch das nördliche Polen von Kujawien-Pommern über Masuren bis nach Podlachien im Nordosten.
Nest an der polnischen Storchenroute.
Die große polnische Gastfreundschaft macht das Land auch für individuelle Reiserouten interessant, denn nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Land begegnet man Reisenden aus anderen Ländern mit Offenherzigkeit, freundlicher Neugier und ausgesprochener Hilfsbereitschaft.
Gänsemarsch durch Kujawien-Pommern
Polen ist berühmt für seine Gänse, und das Zentrum der Gänsemast liegt in der reizvollen Region Kujawsko-Pomorskie. Dort liegt auch die Stadt Toruń an der Weichsel mit ihrem mittelalterlichen Stadtkern, der seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Den berühmten Gänsen begegnet man nur an Markttagen, dafür sorgt aber das Thorner Pfefferkuchen-Museum für ein wohliges Gefühl in der Magengegend. Natürlich kommt auch keiner an dem imposanten Denkmal des Nikolaus Kopernikus vorbei, denn der berühmte Astronom wurde 1473 in Toruń geboren und ging hier zur Schule. Weiter geht es in die hübsche Jugendstilstadt Bydgoszcz, in der man die königlichen Brauhäuser, Speicher und Salzlagerstätten bewundern kann.
Der Branicki Palast und seine Gärten in Bialystok gelten als das polnische Versailles.
Ferienzentrum Masuren
Die Masurische Seenplatte ist das größte zusammenhängende Feuchtgebiet Europas, Rückzugsgebiet vieler bedrohter Vogelarten und bestens geeignet für Wanderer und Wassersportler. In Gałkowo sollte man im schönen Salon der Marion Gräfin Dönhoff Station machen, denn dort erfährt man alles über die Geschichte Masurens und den aus Russland stammenden Phillipponen, die früher in den hiesigen Dörfern lebten. Auf der Wanderung zum Krutyna-Fluss