Operation Terra 2.0. Andrea Ross
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Noch immer schraubte LaSalle konzentriert, sagte dabei keinen Ton. Die klobigen Handschuhe seines Raumanzugs erlaubten nun mal keine hastigen oder allzu präzisen Bewegungen. Lediglich seine gleichmäßigen Atemgeräusche waren zu hören. Wenigstens etwas! Wer ruhig atmete, konnte zumindest keine ernsten Gesundheitsprobleme haben.
»Sag doch endlich was!«, murmelte Sheila mit weit aufgerissenen Augen. Eine Nachfrage über Funk hätte wegen der vermaledeiten Zeitverzögerung nichts gebracht. Sie mussten sich also gedulden, bis Pierre von selbst etwas äußerte.
Da, nun hielt er zwei Teile in der Hand, die Kapsel war vollends geöffnet. In langen, silbrig glänzenden Fäden tropfte tatsächlich eine sirupähnliche Masse aus den beiden Hälften zu Boden. LaSalle griff mit einem pinzettenartigen Werkzeug in die größere und zog langsam und vorsichtig ein dunkles Röllchen daraus hervor. Er leuchtete mit der Helmlampe seines Anzugs in die Kapselteile, schüttelte den Kopf. Scheinbar enthielten sie keine weiteren Gegenstände. Er legte sie zur Seite.
»Marscontrol, ich hoffe, ihr habt das hier mitbekommen. Ich halte eine Art Folie in Händen, die fein säuberlich aufgerollt ist. Sie schwamm in einer dicklichen Flüssigkeit, die offenbar der Konservierung diente. Außerdem hat sie wohl den Verschluss versiegelt, denn im Gewinde ist sie zu einer Art elastischem Gummi kristallisiert.
Schade, dass ich diese Folie – oder was auch immer das sein mag – nicht mit bloßen Fingern befühlen kann. Das Material sieht aus wie … hm … wie dünner Kunststoff. Ja genau, wie handelsübliche Plastiktüten von der Erde. Soll ich vorsichtig versuchen, das Ding zu entrollen? LaSalle Ende.«
Die drei Verantwortlichen sahen sich gegenseitig an. »Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer weiß, ob das Material den Rückflug zur Erde heil übersteht! Pierre soll das gute Stück auseinanderfieseln und es zur Sicherheit gleich abfotografieren, oder was meint ihr?«, fragte Maier.
Zwei Minuten später erteilte Thomas Maier dem wartenden Astronauten die entsprechende Anweisung. Die übrigen Mitarbeiter im Kontrollraum sprangen vor ihren jeweiligen Bildschirmen auf und jubelten. Nun mussten sie wieder fast eine Viertelstunde warten, bis der Funkspruch in die Tat umgesetzt wurde. Eine schier endlos lange Zeit!
In diesem Moment gesellte sich auch Eric Campbell wieder dazu, den die pure Neugier aus seinem Büro getrieben hatte. Im Grunde war er zwar als Ressortleiter für Finanzielles und PRArbeit zuständig – doch dieser Tag im Juli 2023 war dermaßen geschichtsträchtig, dass er die Vorgänge auf dem Mars unbedingt live miterleben musste. Man brachte ihn kurz auf den neuesten Stand, dann klebte auch er mit den Augen abwechselnd an der Uhr und auf dem riesigen Monitor. Sein Smartphone, das in der Hosentasche unablässig klingelte, stellte er kurzerhand auf stumm.
Ein Raunen ging durch den Kontrollraum, obwohl Gespräche unter den Mitarbeitern während der heißen Phase der Mission unerwünscht waren. Man konnte wegen der Ablenkung allzu leicht eine blinkende Anzeige übersehen, was fatale Konsequenzen für die Kollegen auf dem Mars nach sich zöge. Doch wer wollte den ESAMitarbeitern übel nehmen, dass sie vor lauter Aufregung Mutmaßungen anstellten, ob es sich bei dem folienähnlichen Gegenstand wohl um ein Schriftstück handelte? Denn genau danach sah es aus.
Zwischen Tiberia und Mars, KINZeit: 13.5.15.15.0, Samstag
In den frühen Morgenstunden brach der Raumfrachter Deep Red Planet planmäßig gen Mars auf, um ein ehrgeizi ges MarsformingProjekt zu starten. Unmengen von Material, Verpflegung und Ausrüstung sollten dorthin transportiert werden, damit schon in Kürze das erste Habitat bezogen und mit der langwierigen Arbeit begonnen werden konnte. Der Zeittunnel war stabilisiert; er reichte bis zu einer hüge ligen Stromtalregion auf der staubtrockenen Marsoberfläche, die die nichts ahnenden Wissenschaftler auf Terra als ChryseBecken bezeichneten. Der Frachter würde den Roten Planeten selbstverständlich von der erdabgewandten Seite her ansteuern, damit er für die Hochleistungsteleskope der neuen Generation unsichtbar blieb.
Leider musste später auch bei Arbeiten auf der Oberfläche jederzeit mit neugierigen Blicken gerechnet werden, denn die ehrgeizigen Wissenschaftler Terras entwickelten ihre, im Augenblick reichlich dilettantische, Technik stetig weiter. Noch durften sie aus taktischen Gründen nichts darüber erfahren, was auf ihrem Nachbarplaneten vor sich ging. Tarnung war somit unabdingbar.
Nach der terrestrischen Zeitmessung schrieb man am Tag des Aufbruchs von Tiberia den 22. Februar des Jahres 2127. Die Reise mit Warp-Geschwindigkeit ging jedoch in die Vergangenheit des Mars zurück. Am Ende der künstlich generierten Raumzeitkrümmungszone galt deswegen, jedenfalls nach dem gregorianischen Kalender, das Datum 10. Oktober 2016.
Wieder einmal hatten Tiberias Regenten beschlossen, posthum bahnbrechende Ereignisse in der Vergangenheit zu lancieren, um den leblosen Planeten Mars in der tiberianischen Ist-Zeit bereits neu besiedeln zu können. Ein überaus ehrgeiziges, aber durchaus machbares Projekt, an dessen Gelingen insbesondere der amtierenden Regentin Alanna extrem viel lag. Sie lebte – wie üblich – unverhohlen ihre Egozentrik aus, wollte sich ein unvergängliches Denkmal setzen, indem sie ›ihr‹ Volk wieder in die alte Heimat zurückführte.
Der Frachtraum vibrierte, als die Deep Red Planet kontrolliert durch den, mithilfe dunkler Materie erschaffenen, Zeittunnel schlingerte. Zwei verliebte Tiberianer saßen eng aneinandergeklammert in einem blauen UniblockKlappbehälter, der um ihre Körper herum üppig mit Decken, Wasserbehältern und haltbaren Lebensmitteln ausgepolstert war. Nur wenige Habseligkeiten hatten sie von ihrem Heimatplaneten Tiberia mitnehmen können, obwohl es sich hier definitiv um eine Reise ohne Option zur Wiederkehr handelte.
Zum allerersten Mal flogen Kalmes und Solaras ohne wissenschaftlichen oder kulturellen Auftrag in das ferne Sonnensystem; niemand ahnte indes, dass sie sich in der verregneten Nacht vor der Abreise heimlich an Bord geschlichen hatten. Die Liebenden befanden sich auf der Flucht, und zwar vor Intoleranz, Revolten und einer jählings aufkeimenden Diktatur, die ihnen während der letzten TUNs schier jede Lebensgrundlage unter den Füßen weggezogen hatte.
Ihr Endziel war allerdings nicht der Mars, sondern vielmehr das benachbarte Terra, wo sie im Rahmen der Operation Terra 2.0 lange Zeit als Maria Magdalena und Jesus von Nazareth gelebt und gelitten hatten. Auf diesem vertrauten blauen Planeten hofften sie nun, inkognito, Ruhe und Frieden zu finden – und zwar zusammen, als Paar. Genau das hatte man ihnen auf Tiberia verwehrt.
Schon nach wenigen Minuten stöhnte Kalmes laut auf, weil ihr die Vibrationen im Zeittunnel körperlich stark zusetzten. Der mit Plantolaan verkleidete Laderaum des Frachters war hinsichtlich solcher Einflüsse natürlich viel weniger gut abgedämmt als die Fluggastzelle und das Cockpit, denn diese für Menschen vorgesehenen Bereiche verfügten über äußerst leistungsfähige Schwingungsdämpfer und Spezialsitze zum Schutz der Wirbelsäule.
Man ging auf Tiberia nicht ernsthaft davon aus, dass jemand derart unvernünftig sein könnte, im Laderaum mitzufliegen – was allerdings den Vorteil barg, dass dieser vor dem Abflug nicht allzu intensiv auf blinde Passagiere kontrolliert worden war. Ein Scanner überprüfte lediglich jeden Behälter automatisch darauf, ob explosive Substanzen oder elektronische Störgeräte an Bord gelangten. Vor möglicher Sabotage war man auch auf Tiberia nicht gefeit.
Gleichwohl glaubten Kalmes und Solaras mit hinreichender Sicherheit zu wissen, dass man die beschwerliche Reise trotz aller Unannehmlichkeiten zumindest überleben konnte, weil ihr ehemaliger Missionskollege Balthasar vor einiger Zeit auf dieselbe Art und Weise nach Terra gelangt war. Die eindeutigen Spuren, die man damals hinter der Innenverkleidung im Frachtraum des Gleiters gefunden hatte,