Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde

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Frankreich - eine Länderkunde - Henrik Uterwedde

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Frankreich im Aufbruch – wohin?

      Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist unermesslich. […] Sie

      erfordert eine neue Moral im öffentlichen Leben; die

      Verteidigung unserer lebendigen Demokratie; die Stärkung

      unserer Wirtschaft; neue Absicherungen in der Welt, die

      uns umgibt; einen Platz für jeden durch die Schule, die

      Arbeit und die Kultur; die Erneuerung unseres Europas; die

      Gewährleistung der Sicherheit für alle Franzosen.

      (Emmanuel Macron, 7.5.2017)

      Emmanuel Macron ist der neue Präsident Frankreichs. Er setzte sich in der Stichwahl vom 7. Mai 2017 mit 66% der Stimmen gegen seine rechtsextremistische Konkurrentin Marine Le Pen durch – nach einem außerordentlich harten, verbissenen Wahlkampf, der den krisenhaften Zustand und die innere Zerrissenheit unseres Nachbarlandes in aller Klarheit offengelegt hat. Macron ist wie kein anderer für eine grundlegende Erneuerung Frankreichs und ein starkes, handlungsfähiges Europa eingetreten. Kann er das Land aus seinen Erstarrungen und Verkrampfungen lösen und aus der Krise führen?

      Ein krisengeschütteltes Land

      Seit längerem ist Frankreich von Krisen und Erschütterungen gezeichnet. Die Wirtschaft hat an Wachstumsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit verloren (→Kap. 6.2). Dies hat auch die Krise in der Gesellschaft genährt, die sich in einer hohen Arbeitslosigkeit (besonders gravierend bei Jugendlichen), der Ausbreitung sozialer Brennpunkte in den Vorstädten und in prekären Lebenssituationen ausdrückt (→Kap. 7.3, 7.4, 8.2). Die terroristischen Anschläge der vergangenen zwei Jahre belasten die Stimmung zusätzlich und beflügeln Debatten und Polemiken über innere Sicherheit, Einwanderung und Islamismus. Dabei zeigen die nachfolgenden Kapitel dieses Buches, dass die Situation trotz aller Probleme nicht so schlecht ist, wie sie wahrgenommen wird. Aber die Franzosen sind, wie internationale Umfragen zeigen, Weltmeister im Pessimismus und neigen zur Schwarzmalerei, was zur teils depressiven, teils durch Wut und Verdrossenheit gekennzeichneten Stimmung im Lande zusätzlich beigetragen hat.

      Die gesellschaftliche Misere greift weit über soziale Krisensymptome wie Massenarbeitslosigkeit, Armutsgefährdung und Abstiegsängste[12] hinaus. Es handelt sich auch um eine manifeste Orientierungskrise. Das französische Integrationsmodell, das seit einem Jahrhundert Einwanderern die Chance bot, französische Staatsbürger zu werden, wird aufgrund wachsender Probleme der Integration grundsätzlich in Frage gestellt zugunsten eine Politik der Abgrenzung und des Ausschlusses von Migranten (→Kap. 8.1). Das tradierte Wirtschafts- und Sozialmodell ist seit langem erschöpft, wird aber von vielen Gruppen krampfhaft gegen vermeintliche innere und äußere Feinde verteidigt; das blockiert auch notwendige Veränderungen, die zu seinem Erhalt wichtig wären. Frankreich profitiert von Europa, seine Wirtschaft ist die fünftstärkste der Welt und zählt zu den Gewinnern der Globalisierung. Dennoch hat sich ein Meinungsklima ausgebreitet, das in der offenen Wirtschaft und der europäischen Verflechtung die Ursache aller französischen Probleme sieht und nach Abschottung und Protektionismus ruft. Ähnlich bizarr ist die in Frankreich übliche Verteufelung der Marktwirtschaft und auch vorsichtiger liberaler Reformen als „Ultraliberalismus“ – angesichts einer Staatsquote von über 56 %, eines gut ausgebauten Sozialstaates (→Kap. 7.2) und eines weiterhin vielfältigen Staatseinflusses in der Wirtschaft (→Kap. 4.1) eine absurde Scheindebatte.

      Die politische Klasse hat wenig dazu beigetragen, diese Orientierungskrise zu überwinden. Im Gegenteil haben konservative wie sozialistische Regierungspolitiker diese Vorurteile oft genug noch genährt, anstatt gegen sie anzugehen. Sie haben vor allem nicht den Mut und nicht die Kraft aufgebracht, Klartext zu reden und notwendige Reformen vorzunehmen, und das Land damit weiter in die Krise getrieben. Ihr halbherziges Agieren ist zunehmend auf Unverständnis gestoßen. Zusätzlich haben das abgehobene Agieren der politischen Klasse mit ihren Pariser Machtspielen wie auch fragwürdige, ja skandalöse Verhaltensweisen (wie etwa die Scheinbeschäftigung der Ehefrau des konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, die den Staat eine knappe Million Euro gekostet hat) den seit lange schwelenden Vertrauensverlust zwischen den Bürgern und den Institutionen, besonders den Parteien und der Regierung (→Kap. 2.4), weiter verschärft.

      Radikalisierung und politische Spaltungen

      All dies hat dazu beigetragen, dass die Präsidentschaftswahl zu einer wahren Generalabrechnung der Bürger mit den herrschenden Parteien geraten ist. Zahlreiche führende Politiker wurden schon im Vorfeld gnadenlos abgestraft, allen voran die beiden früheren Präsidenten, der Sozialist François Hollande (er wagte es angesichts desaströser Umfragewerte gar nicht erst, wieder zur Wahl anzutreten) und sein Amtsvorgänger, der Konservative Nicolas Sarkozy (er wurde bei den Vorwahlen der Konservativen deutlich geschlagen). Im ersten Wahlgang schieden dann die Kandidaten der beiden[13] klassischen Regierungsparteien – Sozialisten und die konservativen Republikaner – aus, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Regierungsverantwortung abgelöst hatten: Das hatte es noch nie gegeben.

      Vom Versagen der etablierten Parteien profitierten die links- und rechtsextremen Kräfte. Der rechtsextreme Front National erzielte mit 7,6 Millionen Stimmen (21,3 %) im ersten und knapp 11 Millionen (34 %) im zweiten Wahlgang sein historisch bestes Wahlergebnis. Auch der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon konnte mit 19,6 % im ersten Wahlgang sein bisher bestes Ergebnis feiern und zur Demütigung des sozialistischen Kandidaten beitragen, der auf katastrophale 6,4 % abstürzte. Insgesamt haben im ersten Wahlgang über 45 % der Wähler für extremistische Kandidaten gestimmt, die außer Fundamentalopposition, pauschaler Antiglobalisierungspolemik, dezidiert antieuropäischen und teilweise ausländerfeindlichen Parolen keinerlei Lösungsvorschläge zu bieten hatten. Dies zeigt das ganze Ausmaß an politischer Desorientierung, Frustration und Verbitterung in weiten Teilen der Wählerschaft. So zeigt sich die französische politische Landschaft gespalten wie nie zuvor. Zwischen der radikalen Linken, den Sozialisten, den rechtslastigen Konservativen, den Rechtsextremen und der in ihren Konturen noch etwas unklaren Bewegung der Mitte bestehen tiefe Gräben.

      Triumph der Mitte?

      Angesichts dieser Polarisierung und Radikalisierung der Wähler gleicht es fast einem Wunder, dass ausgerechnet der Kandidat der Mitte, Emmanuel Macron, die Wahl schließlich für sich entscheiden konnte. Auch er war mit einer grundlegenden Kritik am herrschenden Politikbetrieb angetreten, der das Land in den vergangenen Jahren zunehmen gelähmt hatte. Im Unterschied zu den anderen Kandidaten verband er diese Fundamentalkritik mit einem realistischen, gangbaren Programm der Erneuerung. Der 39-Jährige, ein typisches Produkt der französischen Eliteschulen (→Kap. 9.3), ist noch ein Neuling im politischen Geschäft. Als Mitarbeiter von Präsident Hollande im Präsidialamt (2012) sammelte er seine ersten Erfahrungen, bevor er 2014 zum Wirtschaftsminister ernannt wurde. Dort fiel er durch seinen ausgeprägten Reformwillen auf, eckte damit aber bei der Mehrheit der sozialistischen Minister und Abgeordneten an. So war es folgerichtig, dass er 2016 die Regierung verließ und sich mit der von ihm gegründeten Bewegung En Marche! (etwa: Vorwärts!) auf die Präsidentschaftswahl vorbereitete. Macron positioniert sich politisch in der Mitte und plädiert für ein Bündnis der „fortschrittlichen“, reformbereiten Kräfte gegen die „Konservativen“. Er will die in Frankreich bislang vorherrschende Links-Rechts-Polarisierung überwinden, die sich in einem sterilen, feindlichen Gegeneinander erschöpft hat, anstatt nach Kompromissen und Koalitionen zu suchen [14](→Kap. 2.4). Seine Kandidatur war ein doppeltes Wagnis: Bisher wurden alle Kandidaten der Mitte zwischen den dominanten Parteien der Linken und der Konservativen zerrieben – eine unerbittliche Folge des Mehrheitswahlrechts (→Kap. 3.2). Noch nie zuvor ist ein derart junger Kandidat mit vergleichsweise geringer politischer Erfahrung, zudem

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