Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde
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a) Staat und Nation
Frankreich kann auf eine jahrhundertealte nationalstaatliche Tradition zurückblicken, die sich im Begriff der „État-nation“ ausdrückt. „Frankreich“, so drückt es Robert Picht aus, „gilt als der klassische Nationalstaat, der sich gegen Kaiser und Papst seit dem Mittelalter in ungebrochener Kontinuität um die Pariser Zentralmacht herum gebildet hat. Der Staat hat sich die Nation geschaffen, sie durch Verwaltung, Sprache, Bildungswesen und das Streben nach internationaler Geltung und Unabhängigkeit immer[18] weiter zu einem erstaunlich homogenen sozialen Körper vereinheitlicht“ (→weiterführende Literatur; S. 47). Die Nation definiert sich in dieser Tradition als Produkt menschlichen Handelns, weil sie sich nicht auf Rasse, Sprache oder Geographie, sondern auf die freiwillige Zustimmung der einzelnen Bürger und damit auf ein „alltägliches Plebiszit“ gründet, wie dies Ernest Renan 1882 in seinem berühmt gewordenen Vortrag formulierte. Auch die Erinnerungsgemeinschaft an die in der Vergangenheit gemeinsam erbrachten Opfer, an Belastungsproben und an Erfolge, spielt dabei eine Rolle. Diese kollektiven Erinnerungen wach zu halten, ist auch Aufgabe der Geschichtsschreibung und des Unterrichts – ein weiterer Grund für die Bedeutung der Geschichte für das französische Selbstverständnis. Da diese Konstruktion auf Freiwilligkeit beruht und ihr Bestand damit immer wieder bedroht ist, hat der Staat die Aufgabe, die Einheit der Nation zu wahren und gegen Partikularinteressen durchzusetzen.
» Zitat aus Ernest Renan: Was ist eine Nation? (1882)
Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. […] Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten […].
Eine Nation ist […] eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist – erlauben Sie mir dieses Bild – ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist. […] Ich fasse zusammen. Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erschafft ein Moralbewusstsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses Moralbewusstsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren.
(Ernest Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Vortrag an der Sorbonne, 11.3.1882. Aus dem Französischen von Henning Ritter. Veröffentlicht in: Jeismann, Michael/Ritter, Henning: Grenzfälle – Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993) (zitiert nach http://www.zeit.de/reden/die_historische_rede/200109_historisch_renan/seite-4)
[19]b) Souveränität
Die Souveränität ist unteilbar. Im Zeitalter des Absolutismus war damit die Legitimierung der absoluten Macht des Königs über sein Herrschaftsgebiet gemeint. Mit der Revolution von 1789 ist die Souveränität vom absoluten Herrscher auf das Volk übergegangen, das – über seine gewählten Vertreter, das Parlament – den allgemeinen Volkswillen und die Nation repräsentiert. Die Nation wird damit zum Subjekt eines einheitlichen Willens. Die Souveränität muss nach außen verteidigt werden – als nationale Souveränität gegenüber Versuchen, den Nationalstaat zu überwinden, etwa durch einen europäischen Föderalismus. Deshalb waren Ideen eines europäischen Bundesstaates, der die Nationalstaaten überwinden sollte, in Frankreich nie populär und wurden oft bekämpft. De Gaulle verfocht in den 1960er Jahren das Konzept eines „Europa der Vaterländer“, das auf den Staaten aufbaut und deren Souveränität achtet (→Kap. 10). Die Souveränität gilt aber auch nach innen. So legt Artikel 1 der Verfassung fest: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik“. Unteilbar heißt, dass der Wille des Volkes, der sich in den Gesetzen der Republik niederschlägt, im gesamten Territorium in gleicher Weise angewandt wird. Deshalb hat es traditionell ein großes Misstrauen gegenüber regionalistischen Bewegungen gegeben, denen unterstellt wird, die Einheit der Nation zu unterhöhlen. Noch im Jahr 2000 scheiterte die damalige sozialistische Regierung mit dem Versuch, der Inselregion Korsika aufgrund ihrer besonderen regionalen Verhältnisse einige beschränkte (und kontrollierte) gesetzgeberische Befugnisse einzuräumen, am parteiübergreifenden Widerstand im Namen der Einheit der Nation.
c) Die Republik
Das moderne, demokratische politische Modell Frankreichs hat sich nach der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert herausgebildet. Ihr Kern besteht in der Idee der Republik und dem republikanischen Pakt zwischen dem Volk – dem Souverän – und den von ihm gewählten Vertretern (Parlament und Regierung). Dieser Pakt besteht darin, dass das Volk in der Wahl seinen politischen Willen zum Ausdruck bringt (der allgemeine Volkswillen: volonté générale); die von ihm gewählten Repräsentanten verpflichten sich, im Sinne dieses Volkswillens zu regieren. Nichts soll in dieser Lesart den republikanischen Pakt verfälschen, indem sie sich zwischen Bürger und Regierung schieben: weder Interessengruppen oder Verbände, die egoistische Einzelinteressen vertreten und damit das Allgemeinwohl gefährden, noch Regionen (oder, wie im deutschen Föderalismus, Bundesländer), deren regionaler Egoismus die Einheit der Nation gefährden könnte. Diesen sogenannten Zwischengewalten wurde in der französischen Politik immer mit großem Misstrauen begegnet. Verbände sind schwächer organisiert und spielen eine geringere Rolle in der politischen Willensbildung[20] als in Deutschland, und trotz der Dezentralisierung seit 1981 hat man parteiübergreifend stets darauf geachtet, dass sich die Regionen nicht zu Gegenspielern des Zentralstaates entwickeln. Man spricht deshalb auch von einer Schwäche der Zivilgesellschaft, d.h. der zahlreichen nichtstaatlichen Organisationen und Verbände, die im öffentlichen Leben anderer Länder eine wichtige Rolle spielen und staatliche Regelungen oft ergänzen oder ersetzen können (→Kap. 4.2).
» Zitat: Das allgemeine Interesse als abstrakter Begriff
Seit zwei Jahrhunderten haben die Franzosen nicht aufgehört, eine besonders zwiespältige Beziehung zur Idee des allgemeinen Interesses zu pflegen. Der Hass auf den Korporatismus und das Anprangern der Partikularinteressen – beide repräsentierten 1789 das Ancien Régime – haben in unserem Land ein abstraktes Konzept des allgemeinen Interesses hervorgebracht. Daher rührt das französische Unvermögen, dieses als Kompromiss zwischen den Einzelinteressen zu denken, wie in England oder Deutschland. Das erklärt auch weitgehend, warum die französische Gesellschaft weder mit der Sozialdemokratie noch mit dem pluralistischen Liberalismus etwas anfangen konnte.
(Pierre Rosanvallon: Fondements et problèmes de l’„illibéralisme“ francais, in: Thierry de Montbrial (Hrsg.): La France du nouveau siècle, Paris: PUF 2002, S. 91)
Oberste Norm der Republik ist das Gesetz, das, vom Gesetzgeber im Namen des Volkswillens verabschiedet, über allem steht. „Es gibt in Frankreich keine Autorität, die über dem Gesetz steht“ – so heißt es in der Verfassung von 1791. Der Hinweis auf ein Gesetz gilt als Beweis und als nachdrückliche Autorität, das zu befolgen ist. Anekdotisch steht dafür die Aufschrift „Défense d’afficher – loi du 29 juillet 1881“, die man in Frankreich auf zahlreichen Mauern immer noch vorfindet und mit der angezeigt wird, dass das Plakatieren verboten ist. Der exakte Verweis auf das entsprechende Gesetz – man beachte das Datum! – soll offenbar dem Verbot seine ganze Legitimität verleihen. In dieser Sichtweise darf nichts und niemand das Gesetz infrage