Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde

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Frankreich - eine Länderkunde - Henrik Uterwedde

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bewertet und abgelehnt – wird in Frankreich deshalb oft als sinnvoll und notwendig, auf jeden Fall aber pragmatisch gesehen und dann auch ohne viele ordnungspolitische Gewissensbisse verfolgt (→Kap. 4.1). Der Vorrang der Politik zeigt sich auch im Umgang mit dem Rechtsstaat. Nur zögernd hat sich in Frankreich die Überprüfung von Gesetzen durch das Verfassungsgericht durchgesetzt, und noch heute wäre eine so ausgedehnte Rolle, wie sie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland gegenüber dem Gesetzgeber einnimmt, in Frankreich nicht akzeptabel (→Kap. 2.3). Auch die strikte Regelbindung der Politik (z. B. durch die Haushaltsregeln der Europäischen Währungsunion, die die Neuverschuldung begrenzen) wird nur unter Vorbehalten akzeptiert: Es ist für viele Franzosen undenkbar, dass abstrakte Regeln eine demokratisch gewählte Regierung daran hindern können, die ihr notwendig erscheinende Politik zu realisieren und dafür eventuell auch Kredite in Anspruch zu nehmen.

      Nachdem mit der französischen Revolution die Grundlagen für die moderne demokratische Entwicklung gelegt wurde (Erklärung der Menschenrechte, Prinzip der Volkssouveränität), war die französische Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine rasche Abfolge unterschiedlicher Herrschaftsformen gekennzeichnet: kurzzeitige Republiken, die Herrschaft Napoleons, die Rückkehr zur Monarchie bzw. zum Kaiserreich Napoleons III und am Ende die III. Republik (→Tab. 1).

      a) Die Dritte Republik (1870–1940)

      Die Geschichte der modernen demokratischen Republik beginnt 1870 mit der Ausrufung der III. Republik, deren hauptsächliche Institutionen schon auf die heutige Zeit verweisen: Ein von der Nationalversammlung für sieben Jahre gewählter Präsident, dessen Befugnisse aber schon 1875 eng begrenzt wurden; eine Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist; ein Parlament mit zwei Kammern: die Nationalversammlung mit 600 Abgeordneten,[25] die für 5 Jahre direkt gewählt wurden, und der Senat mit 300 Senatoren, die durch lokale Wahlmännergremien indirekt für 9 Jahre gewählt wurden, wobei alle drei Jahre ein Drittel erneuert wurde. Damit war eine funktionsfähige, auf allgemeinen Wahlen (allerdings nur durch Männer) basierende parlamentarische Demokratie entstanden, die deutlich fortschrittlicher als das 1871 entstandene, autoritär regierte Deutsche Reich Bismarcks war.

      In die Zeit der III. Republik, die bis 1940 andauerte, fallen so grundlegende Entwicklungen wie die Ausdehnung des französischen Kolonialreiches, die Herausbildung des öffentlichen Schulsystems, das sich als „Speerspitze der Republik“ verstand und in allen 36.000 Gemeinden Frankreichs zur Verbreitung der republikanischen Werte beitrug, oder der Kulturkampf zwischen der katholischen Kirche und der Republik, der in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre (1984–1905) 1905 zum Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat führte. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wurden 1884 erstmals legalisiert und 1901 ein modernes, heute noch gültiges Vereinsgesetz geschaffen (bis heute firmieren Vereine unter der Bezeichnung „association loi 1901“). Auseinandersetzungen zwischen der demokratischen Republik und monarchischen oder antiparlamentarischen Kräften gab es immer wieder, auch in den 1930er Jahren. Angesichts der Gefahr einer autoritären antidemokratischen Bewegung (faschistische Ligen; blutige antiparlamentarische Demonstration am 6.2.1934) bildete sich 1936 erstmals eine Volksfrontregierung unter Führung der Sozialisten, die von der Kommunistischen Partei geduldet wurde.

      Wirtschaftlich und gesellschaftlich war die Periode der III. Republik eine Zeit des nur langsamen Wachstums und Strukturwandels. Frankreich vollzog den zunächst in Großbritannien, ab 1870 auch im Deutschen Reich realisierten Weg der raschen Industrialisierung mit allen ihren Begleiterscheinungen (Landflucht und Verstädterung, Entstehung eines Massenproletariats, der sozialen Frage und der Arbeiterbewegung, Konzentration des Kapitals) nur zögernd und gleichsam in homöopathischen Dosen. Es war, als ob sich die herrschenden Klassen dieser Zeit – das Besitzbürgertum, aber auch die Landbesitzer – stillschweigend darüber einig waren, den ihre Machtbasis gefährdenden Strukturwandel so weit wie möglich zu bremsen. Die Folge war eine außerordentliche politische Stabilität und Blüte der demokratischen Entwicklung der III. Republik, aber auch eine relative Stagnation in der Bevölkerungsentwicklung, im Wirtschaftswachstum und in der Modernisierung von Landwirtschaft und Industrie. In der Folge sah sich Frankreich zunehmend von der Wirtschaftsdynamik vor allem des deutschen Nachbarn abgekoppelt und geriet in einen ökonomischen Entwicklungsrückstand. Der Kontrast zum hochindustrialisierten Deutschland wurde vor allem nach dem Ersten Weltkrieg überdeutlich (→Kap. 6.1).

      Die Dreyfus-Affäre

      [26]löste um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine der größten innenpolitischen Krisen Frankreichs aus. Der französische Hauptmann jüdischen Bekenntnisses, Alfred Dreyfus, wurde 1894 aufgrund falscher Beweise wegen Hochverrats und Spionage angeklagt, verurteilt und auf die Insel Mayotte deportiert. Das Urteil löste eine jahrelange erbitterte Kontroverse aus. Sie wurde durch die Hetzpropaganda antisemitischer und antirepublikanischer Kreise in Armee, Justiz, Erziehungswesen, Politik und Gesellschaft entfacht. Dagegen gingen republikanische Politiker und Intellektuelle den immer offenkundigeren Zweifeln an diesem Fehlurteil nach und forderten seine Revision, wie der Schriftsteller Émile Zola in seinem berühmt gewordenen offenen Brief an den Präsidenten in der Zeitung L’Aurore 1898 („J’accuse“, Ich klage an). Die anhaltende Welle von Protesten führte schließlich 1899 zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, aber erst 1906 wurde Dreyfus wegen erwiesener Unschuld freigesprochen und wieder in die Armee aufgenommen.

      Diese Affäre erlangte weit über den ursprünglichen Fall hinaus eine hohe politische Bedeutung. In einer Zeit, in der die Republik nach 30 Jahren Existenz immer noch nicht völlig gefestigt war und sich antidemokratischen Anfeindungen ausgesetzt sah, markierte sie die Durchsetzung der republikanischen Kräfte gegen ihre Feinde.

      Außenpolitisch war die Zeit vom deutsch-französischen Gegensatz geprägt, nachdem Deutschland nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870–1871 die Annexion des Elsass und eines Teils von Lothringen und Reparationszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Francs erzwungen hatte. Aus dem Ersten Weltkrieg, der weitgehend auf französischem Boden stattfand und ein ungeheures Ausmaß an Zerstörungen und Menschenopfern forderte, ging Frankreich als Sieger hervor und war maßgeblich an den harten Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles beteiligt (1919). Indessen scheiterte dieser Versuch, Sicherheit gegen den deutschen Nachbarn mittels harter Zwangsauflagen zu erreichen, spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933. Im Zweiten Weltkrieg gab es zunächst keine Kampfhandlungen bis zum Überfall der hitlerdeutschen Truppen im Mai 1940, der nach wenigen Wochen mit einer Katastrophe für Frankreich endete.

      b) Kollaboration und Widerstand (1940–1944)

      Es folgte eine kurze Zeit (1940–1944), die gleichzeitig von Kollaboration mit und Widerstand gegen Hitler geprägt war. Am 22.6.1940 schloss Marschall Pétain, Oberbefehlshaber der französischen Truppen, einen Waffenstillstand mit Hitler. Ein Teil Frankreichs blieb unter deutscher Besatzung [27](zone occupée); der Rest des Landes bildete den „Französischen Staat“ (État francais), ein autoritäres Regime mit Pétain an der Spitze und der Kurstadt Vichy als Hauptsitz. Dieses Vichy-Regime verpflichtete sich zur Zusammenarbeit mit Hitlers Deutschland (collaboration), z. B. Wirtschaftslieferungen und den „freiwilligen“ Arbeitseinsatz von Franzosen in Deutschland. Es kompromittierte sich überdies durch seine aktive Beteiligung an den Judendeportationen. Gegen Pétain formierte sich sogleich nach dem Waffenstillstand 1940 Widerstand, der sich in den kommenden Jahren ausweiten sollte. Der General Charles de Gaulle verurteilte den Waffenstillstand in einem Aufruf, den er am 18. Juni 1940 aus dem Londoner Exil verbreitete und in dem er zur Fortsetzung des Kampfes gegen Deutschland aufrief. Er bildete bald eine Exilregierung und später auch eigene Truppen, die sich an den alliierten Kampfhandlungen vor allem bei der Befreiung Frankreichs beteiligten. Dieser Widerstand (Résistance) von außen wurde ergänzt durch Widerstandsgruppen in Frankreich selbst, an denen sich Menschen aus verschiedenen Strömungen (Kommunisten, Sozialisten, Christen, Bürgerliche,

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