Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde

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Frankreich - eine Länderkunde - Henrik Uterwedde

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      Vor Macron liegt ein schwerer Weg. Die Reformbaustellen sind vielfältig und politisch teilweise hoch explosiv. Die tiefen Risse in der Gesellschaft sind nicht verschwunden. Man hat von den „zwei Frankreichs“ gesprochen: Das Frankreich der ländlichen Regionen und kleinen Städte, der niedrigen Schulabschlüsse, geringen Einkommen und der einfachen sozialen Schichten (Arbeiter, einfache Angestellte) sieht sich als Opfer der Globalisierung und des wirtschaftlichen Wandels. Es hat sich besonders stark für Marine Le Pen, ihren aggressiven Antiliberalismus und ihr Versprechen auf Schutz durch nationale Abschottung ausgesprochen. Dagegen steht das Frankreich der Großstädter, der Akademiker und der gut verdienenden mittleren bzw. höheren Angestellten, das die Zukunft des Landes optimistisch einschätzt. Hier hat Macrons Programm einer offenen Gesellschaft, einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung des Landes und einer Wiederbelebung der Europäischen Union besonders viel Widerhall gefunden. Der Slogan von den zwei Frankreichs ist allerdings überzogen, weil die vielfältigen politischen Spaltungslinien in Wirklichkeit quer durch die sozialen Gruppen und Schichten gehen. Dennoch: Der neue Präsident wird versuchen müssen, die Gräben einzuebnen, die Franzosen wieder ein Stück weit zusammenzuführen, neue Angebote der Teilhabe zu machen, den sozialen und den nationalen Zusammenhalt zu stärken und verlorenes Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Nur so können die Frustrationen, die Resignation und die Bürgerwut in positive Energie umgewandelt werden.

      Emmanuel Macrons Vertrauensvorschuss ist nicht groß. Viele Franzosen haben ihn nur gewählt, um Marine Le Pen zu verhindern; seinen Plänen stehen sie mehrheitlich skeptisch, wenn nicht ablehnend gegenüber. Die verbreiteten Feind- und Zerrbilder seiner zahlreichen Gegner, die ihn als Ex-Banker, kalten Neoliberalen und Vertreter der Reichen ohne soziale Ader dargestellt haben, wirken nach. Die hohe Wahlenthaltung (25,4 %) wie auch die vielen ungültigen Stimmen (11,5 %) zeigen, dass er viele Franzosen erst noch überzeugen muss. Das erfordert eine gut ausbalancierte Politik, die liberale Erneuerung und sozialen Schutz miteinander verbindet. Macron will deshalb die geplanten angebotsorientierten Reformen (Vereinfachung des Arbeitsrechts, Entlastungen für die Unternehmen, weniger bürokratische Auflagen für Klein- und Mittelunternehmen) durch [15]Maßnahmen ergänzen, die die Kaufkraft der breiten Bevölkerung erhöhen (weitgehende Abschaffung der Wohnraumsteuer, Senkung der Arbeitnehmer-Sozialabgaben, Leistungsverbesserungen der Krankenversicherung), den Brennpunktvierteln der Vorstädte neue Perspektiven geben (Halbierung der Klassengrößen in den Grundschulen; mehr Lehrer) und Signale für mehr Beschäftigung aussenden (berufliche Qualifizierung von Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen; Reform der beruflichen Bildung). Auch die angestrebte Reduzierung der öffentlichen Ausgaben durch eine effektivere Verwaltung wird durch ein umfangreiches Investitionspaket ergänzt, mit dem wichtige Projekte (berufliche Bildung, Energiewende, Digitalisierung der Wirtschaft) angestoßen werden sollen. Der Präsident braucht möglichst bald sichtbare Erfolge, um die Wähler von seinem neuen Kurs zu überzeugen.

      Zunächst einmal benötigt er bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 eine Mehrheit, um seine Politik umsetzen zu können. Denn so stark die Rolle des Präsidenten in der Fünften Republik ist, seine Gestaltungsmacht hängt auch von der Zusammensetzung der Nationalversammlung ab (→Kap. 2). Macrons noch junge Bewegung En Marche! dürfte zwar eine wichtige Rolle in der neuen Nationalversammlung spielen, aber es ist nicht sicher, ob sie eine eigene Mehrheit erringen kann. Wenn nicht, wird sie auf Partner angewiesen sein oder, schlimmer, durch eine oppositionelle Mehrheit blockiert werden. Bei Sozialisten und Konservativen gibt es zwar eine Reihe führender Politiker, die im Prinzip bereit sind, zu notwendigen Reformen beizutragen, aber auch Hardliner, die den neuen Kurs zu verhindern versuchen. Viel wird auch von der künftigen Parteienlandschaft abhängen. Marine Le Pen hat eine Umstrukturierung ihrer Partei angekündigt. Bei den Konservativen ist die Klärung zwischen dem gemäßigten Flügel und den Radikalkonservativen, die oft eine Nähe zum Front National aufweisen, überfällig. Die Sozialisten stehen vor einer Zerreißprobe, von der nicht sicher ist, ob die Partei sie überleben wird: Zwischen dem linken Flügel, der sich im Grunde dem Linksaußen Mélenchon näher fühlte als der eigenen sozialistischen Regierung, und den gemäßigten Sozialdemokraten scheinen die Tischtücher längst zerschnitten. Schließlich steht auch Macrons Bewegung vor der Aufgabe, sich in eine wirkliche Partei zu verwandeln und im Lande stärker zu verankern. Es wird sich also einiges ändern – nichts neues in einem Land, dessen Parteiensystem traditionell durch Instabilität und ständigen Wandel gekennzeichnet ist (→Kap. 3.1).

      Risiken und Chancen

      Angesichts der verhärteten innenpolitischen Fronten und des vielfachen Widerstands gegen jegliche Veränderungen – ist ein Scheitern des neuen Präsidenten nicht auszuschließen. Es gibt aber auch Argumente für vorsichtigen [16]Optimismus. Denn diese Wahl, die die politischen Karten so gründlich neu gemischt hat, könnte alte Blockaden überwinden, ein Signal der Erneuerung auslösen und Veränderungen anstoßen. In der Politik setzt der bislang jüngste Präsident der V. Republik auf viele neue Gesichter in Parlament und Regierung, dazu auf einen neuen Stil und Verhaltensregeln für die Politiker, um dubiose Praktiken künftig zu verhindern. Auch die Art des Regierens könnte sich verändern. Wenn der Präsident in der Nationalversammlung für Reformkoalitionen werben muss, kann das Parlament eine stärkere Rolle spielen und das bisherige sterile Gegeneinander durch echte Verhandlungen und Kompromisslösungen abgelöst werden. Sollte es Macron gelingen, bisherige Reformblockaden auf diesem Wege zu überwinden, wäre das ein wichtiges Signal des Aufbruchs. Denn so umstritten die Reformen teilweise sind, setzen sie doch an den richtigen Punkten an: Arbeitsmarkt (→Kap. 7.4), Berufsausbildung (→Kap. 9.2), sozialer Dialog (→Kap. 4.2, 8.3), Brennpunktviertel (→Kap. 8.2), Abgaben und Rahmenbedingungen für die Unternehmen (→Kap. 6.5). Sie sind die Voraussetzungen dafür, die Wirtschaft aus ihrer Lethargie zu befreien und eine Trendwende für mehr Wachstum und Beschäftigung einzuleiten.

      Schließlich: Trotz aller Probleme ist Frankreich, das ergibt sich aus der Lektüre der nachfolgenden zehn Kapitel, ein Land mit großer Ausstrahlung, zahlreichen Stärken und Potenzialen. Diese warten darauf, aus manchen Fesseln befreit zu werden und sich wieder stärker entfalten zu können. In Politik und Gesellschaft gibt es neben den Vertretern des Status quo auch zahlreiche Kräfte, die bereit sind, neue Wege zu gehen. Auf sie kann der neue Präsident setzen. Es muss sich noch erweisen, ob seine Entschlossenheit und sein politisches Geschick ausreichen werden, um Frankreich zu reformieren und dem Land die neue Perspektive zu geben, die es so dringend braucht.

      [17]1. Historische Grundlagen

      … die Franzosen [unterhalten] nicht nur eine

      besonders intensive, fast neurotische Beziehung

      zur Geschichte […], sondern […] das historische

      Bewusstsein [war] auch der wichtigste Baumeister

      des französischen Staates und der französischen

      Nation […]. Frankreich ist mehr als andere

      Staaten und Nationen auf der Grundlage seines

      Geschichtsbewusstseins entstanden.

      (Jacques Le Goff, zitiert von Étienne François: Die

      Einstellung zur Geschichte, in: Robert Picht et al.:

      Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem

      21. Jahrhundert, München Piper 1997. S. 15)

      Die Franzosen pflegen ein intensives Verhältnis zur Geschichte. Dies hängt auch damit zusammen, dass wesentliche Bestandteile der heutigen politischen Kultur und des modernen französischen Politikmodells tief in der französischen Geschichte verwurzelt sind. Sie sind bis heute Schlüsselbegriffe des Selbstverständnisses der französischen Demokratie.

      Auf

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