Kritisches Denken. Группа авторов

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Kritisches Denken - Группа авторов Herausforderungen für die Geisteswissenschaften - Challenges for the Humanities

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Anspruch der absolut wahren Deutung verabschiedet, kann sie für eine Objektivität frei werden, die in dem grundsätzlich polyvalenten Potenzial aller Gegenstände besteht.12

      Dies kann nun nicht nur als eine Erkenntnis der Geisteswissenschaften, sondern als allgemeine Bedingung der Forschung gelten. So werden die Gegenstände der Naturwissenschaften, Soziologie etc. – im Gegensatz zum künstlerisch-poetischen Außen – zwar oft als gesellschaftlich funktionalisiertes Innen verstanden. Doch auch diese ‚inneren‘ Gegenstände der Forschung können in ihrer poetischen Dimension betrachtet werden, in der diese auf sich selbst verweisen. Sie wird nur weniger berücksichtigt. Denn anders als beim Kunstobjekt steht in der Untersuchung des naturwissenschaftlichen, soziologischen, juristischen u.ä. Objekts oftmals dessen referenzielle oder appellative Funktion im Vordergrund: Ein Gegenstand wird in seinem Bezug zur Welt betrachtet und auf seine gesellschaftliche Bedeutung untersucht. Die Fragerichtung scheint in diesem Fall eindeutig. Ist beispielsweise in der Medizin die Strukturanalyse einer Krankheit ein Mittel zum Zweck, um Menschen von ihr zu heilen, gilt die Krankheit als negativer Befund und die Beforschung in Funktion ihrer Beseitigung als gesellschaftlich erstrebenswert. Sie als Struktur zu betrachten, die Krankheit quasi zum Selbstzweck zu ernennen, erscheint nutzlos. Dennoch birgt der Fokus auf die Struktur, wie ihn die Geisteswissenschaften gegenüber dem Kunstwerk einnehmen, weiteres Erkenntnispotenzial. So kann dies Perspektiven aufwerfen, die die eindeutige Definition und Bewertung der gegebenen Struktur als gesund oder krank infrage stellen und zunächst dazu dienen, deren Ursachen und Erwachsen zu verstehen. Sekundär eröffnet dies wiederum eventuelle Alternativen für pragmatische Maßnahmen – ohne dass diese besser oder schlechter sein müssen.13 Selbiges gilt bei der juristischen Definition eines physisch-gewalttätigen Kommunikationsaktes als Terror und den folgenden Reaktionen und Bewertungen in Politik und Medien – ein aktuelles Beispiel mag hier das andauernde Ringen um die Deutungshoheit über die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktivisten im Zuge des G20-Gipfels 2017 in Hamburg bieten. Für die Wissenschaften bedeutet eine solche ‚poetische‘ Befragung der Untersuchungsgegenstände einer jeweiligen Disziplin letztlich zugleich eine kritische Hinterfragung der Disziplinen an sich und ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Insofern beansprucht die von Kevin Drews oben ausgeführte Beobachtung zur geisteswissenschaftlichen Fragepraxis, der die kritische Selbstbefragung der eigenen Disziplin immer eingeschrieben ist, als Prämisse für jede Wissenschaftsdisziplin ihre Gültigkeit.

      Geisteswissenschaftliche Befragung birgt kritisches und engagiertes Potenzial, insofern sie im Akt ihres Fragestellens selbst stets auf das polyvalente Potenzial aller Objekte und Fakten sowie deren Besprechung hinweist und dies zur Bedingung ihres Erkenntnisstrebens erklärt. Geisteswissenschaftliche Kritik kann in diesem Sinne zeigen, wie gerade die Loslösung von einer vorausgesetzten Funktion und die Absage an eine eindeutige Statusdefinition – sei es eines Objekts oder seiner Forschungsfrage – eine Annäherung an das Faktum und das Verständnis seiner Konsequenzen ermöglichen. Zugleich gilt für sie dasselbe, was Adorno über die engagierte Kunst anmerkt: „Sobald jedoch die engagierten [Geisteswissenschaften] Entscheidungen veranstalten und zu ihrem Maß erheben, geraten diese auswechselbar.“14

      Befragung des Kanons als Form kritischen Denkens (Friederike Schütt)

      Beschäftigt man sich mit den Modi des Fragens in den Geisteswissenschaften, so rückt im wissenschaftlichen Arbeiten stets der Anspruch in den Fokus, möglichst offen gebliebene Fragestellungen zu bearbeiten, Fragelücken zu erkennen und zu schließen. Doch wie findet man eigentlich Fragen, die überhaupt noch nicht gestellt wurden, oder Objekte, die noch nicht untersucht wurden, wenn der Blick der Studierenden in akademischen Lehrveranstaltungen wie auch außerwissenschaftlichen Ereignissen, etwa Lesungen, Ausstellungen oder Theateraufführungen, zunächst vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit kanonisierten Objekten und deren Interpretationen gelenkt wird? Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie die Befragung von Kanonbildungsprozessen als produktive Form kritischen Denkens in der geisteswissenschaftlichen Praxis zum Auffinden bisher nicht gestellter Fragen verhelfen und durch eine wissenschaftsgeschichtliche Reflexion der jeweiligen Disziplin befruchtet werden kann.

      Welche Werke, Autoren und Künstler sowie Fragestellungen und Narrative den Kanon einer Geisteswissenschaft prägen, zeigt sich immer wieder im Rahmen groß angelegter Jubiläumsfeierlichkeiten. Die kulturellen Ereignisse bieten zum einen öffentlichkeitswirksames und finanzielles Potenzial für die Forschung, fördern innovative Projekte und bringen neue Forschungsergebnisse hervor. Ob durch museale Sammlungs- und Ausstellungspräsentationen oder etwa literaturvermittelnde Institutionen wie Buchhandel, Bibliotheken oder Literaturkritik, gerade die Schnittstelle zur Öffentlichkeit wird zum anderen aber ebenso häufig zum Anlass für die Wiederholung und Bestätigung bekannter, vermeintlich final erforschter Inhalte.1 Prozesse der Kanonbildung werden fortgeführt, stabilisiert, aber auch problematisiert, wie nachfolgend am Beispiel der jubiläumsbedingten Rezeptionsweise zweier Künstler des frühen 16. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt werden soll.

      Als 2016 das 500. Todesjahr des niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch begangen wird, dringen die fantastischen Fabelwesen aus seinen Werken auf Plakate und Banner, als Muster auf Duschvorhänge und Designerkleidung oder als Holzfiguren in die Wohnzimmer einer kunstinteressierten Öffentlichkeit. Befreit aus dem historisch-religiösen Kontext der Werke, werden Boschs Darstellungsformen zu einem öffentlichkeitswirksamen Marketinginstrument des Jubiläums. Dass sich mit der selektiven Präsentation des ‚Grotesken‘ eine Rezeptions- und Deutungstradition fortsetzt, die Bosch bereits im 16. Jahrhundert als „bemerkenswerte[n] Erfinder von phantastischen und bizarren Dingen“2 stilisierte, demonstriert, wie wenig sich davon abweichende, in der Fachwelt jedoch anerkannte, kunsthistorische Rezeptionsansätze öffentlich durchsetzen bzw. ‚verkaufen‘ lassen. Plakativ zeigt im Sommer 2016 zudem ein Titel der BILD-Zeitung an, welche Fragen an Bosch Karriere gemacht haben und genutzt werden, um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Mit der Frage „War Hieronymus Bosch auf Drogen?“ reproduziert das Medium einen der umstrittensten Deutungsansätze zu Bosch und seinen Werken.3 Zusätzlich greift selbst die Hauptausstellung in ’s-Hertogenbosch mit dem Titel Visionen eines Genies eine längst widerlegte, aber verkaufsfördernde Rezeption von Bosch als einem isoliert arbeitenden Künstlergenie auf.4

      Das absatzfähige Herauslösen von Motiven und Bildern aus der Zeit um 1500 und das dominante Weitertragen der immer gleichen Narrative zu einem Künstler ist bei Jubiläumsfeierlichkeiten ein Phänomen, das bereits 1971 – und damit zu einer Zeit, als Kanonkritik auch in geisteswissenschaftlichen Fachdiskursen vermehrt formuliert wird –,5 der Grafikdesigner Klaus Staeck anprangert. Aus Anlass des damals in Nürnberg gefeierten 500. Geburtsjahrs von Albrecht Dürer sorgt Staeck mit einem Plakat für Aufsehen, auf dem er die Zeichnung von Dürers Mutter mit der Aufschrift „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ versieht.6 Mit der provokanten Frage macht er Dürers Dargestellte zu einer anonymen Alten und löst sie aus dem Kult um den Künstler. Staeck transferiert die intime Zeichnung in das öffentliche Medium des 330 Mal in Nürnberg angebrachten Plakats. Zusätzlich verknüpft er das von Alter und Krankheit gekennzeichnete Antlitz der Frau mit einer sozialkritischen Haltung gegenüber wuchernden Mietpreisen und nutzt die Neusemantisierung des Motivs als kritischen Kommentar auf die bis dahin dominante Dürer-Rezeption, die unreflektierte Verkitschung seiner Kunst in Souvenirobjekten, aber auch die vorrangig auf biographische Zusammenhänge und Fragen nach der ästhetischen Qualität fokussierte kunsthistorische Rezeption Dürers.7 Staeck liefert damit auf zweierlei Ebenen ein Statement zum Kanon der Kunstgeschichte. Er kommentiert sowohl den materialen Kanon, der Dürer und dessen Œuvre als Objekt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hebt, als auch den dazugehörigen Methoden-, Deutungs- und Kriterienkanon, mit dem seitens der Öffentlichkeit und Forschung an Dürer und dessen Schaffen herangegangen wird.8 Staecks Kritik richtet sich als Handlungsaufforderung an die geisteswissenschaftliche Praxis. Sie zieht Fragen nach sich, die auf das Überdenken hergebrachter Rezeptionsmuster und die hinter der Wahrnehmung und Wertung liegenden geisteswissenschaftlichen Verfahren zielen und das wissenschaftshistoriographische Schicksal von Objekten und ihren Produzenten befragen. Welche Bedingungen führen zur Durchsetzungsfähigkeit und Dominanz bestimmter Objekte und ihrer Deutungsansätze? Warum wird

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