Integrative Medizin und Gesundheit. Группа авторов

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werden. Die Vergütungssysteme boten ein gutes Auskommen, neben Bürgermeister, Pfarrer und Schuldirektor war der Arzt im Dorf eine sozial hoch geachtete Respektsperson. Die Notizen erfolgten mangels PC in der händisch geführten Akte. Die Basis war die gelehrte Schulmedizin, allerdings in hoher individueller ärztlicher Variabilität und Auslegung. Der frühere Hausarzt der Mutter der alten Dame kannte die Familie, hatte eine innere Repräsentation der Gestalt der Erkrankungsgeschichten aller Beteiligten, wusste um den individuellen sozialen Kontext und seine Wechselbeziehungen in der Gemeinde.

      Doch die Rahmenbedingungen sind zwei Generationen später grundsätzlich andere geworden und vielfach ausführlich und hinlänglich beschrieben. Junge Menschen wünschen sich heute Gleichberechtigung in Beruf und Familie und benötigen entsprechende infrastrukturelle Unterstützung um zwei Berufe, Familie und soziales Leben miteinander vereinbaren zu können. Junge Ärztinnen und Ärzte zeigen zudem wenig Interesse an der unternehmerischen Verantwortung in der klassischen Einzelpraxis in der heute viel stärker regulierten Versorgungsrealität. Dazu bedürfen heutige Patienten aufgrund der demografischen Veränderungen und der damit verbundenen komplexeren Erkrankungsmuster ein erhöhtes Maß an Betreuung und Fürsorge. In viel stärkerem Maße müssen andere nicht-ärztliche Ressourcen der Zivilgesellschaft miteinbezogen werden (Machta 2019; Annis et al. 2016; Coombs et al. 2011). Darüber hinaus sind komplementäre Behandlungsansätze weiterhin in der Bevölkerung erwünscht, nachgefragt und akzeptiert. Ob die universitäre Schulmedizin das als Habakuk abtut, sich vorsichtig öffnet oder wie in den USA Institute und Lehrstühle einrichtet, welche das Zusammenwirken von klassischer Schulmedizin und ergänzenden „alternativen“ Heilmethoden systematisch untersuchen – die alte Dame im Dorf im Nordschwarzwald kümmert das wenig. Sie sucht für bestimmte Anliegen wie etwa ihr periodisch wiederkehrendes quälendes Hautjucken oder ihren Abgeschiedenheitskummer an Novembertagen schon immer die Tochter des früheren Handauflegers auf, ihre Heilpraktikerin. Die hört geduldig zu und nimmt sich Zeit.

      Kann Integrierte Medizin oder Patientenzentrierte Medizin hier einen Zukunftsweg weisen – oder sind das nur neue Worthülsen für alte Schläuche (Esch u. Brinkhaus 2020; McMillan et al. 2013)? Aus der Perspektive des ländlichen Raums ist der Mangel an Hausärzten das Problem – ob Integrierte Medizin oder einfach nur schulmedizinische Grundversorgung ist zunächst nachrangig. Wird die Herausforderung über eine Hausarztquote mit Verpflichtung zu lösen sein? Oder besser über innovative neue Versorgungsmodelle in multiprofessionellen Teams (Coombs et al. 2011; Chiang et al. 2018; Everett et al. 2016; Society of Teachers of Family Medicine 2012)? Wir an der Medizinischen Fakultät Mannheim haben uns für den zweiten Weg entschieden, und gemeinsam mit Studierenden, Patientenvertretern, nicht-ärztlichen Fachkräften ein Konzept für eine Neugestaltung einer patientenzentrierten, primärärztlichen Versorgung im ländlichen Raum entworfen. Ob sich das Konzept mit dem sperrigen Titel „Ambulante Integrierte Gesundheitszentren zur Optimierung der ärztlichen Versorgung und Pflege im ländlichen Raum“, aber griffigeren Kürzel AMBIGOAL tatsächlich in die Praxis wird umsetzen lassen, ist noch offen. Ein ganzes Bündel an Fragen soll in den nächsten zwei Jahren geklärt und in praktische, auch betriebswirtschaftlich nachhaltige Prozesse übersetzt werden. Im Kern orientiert sich das Vorhaben an den Grundideen der Person- and People-centered Integrated Care (PPCIC). Die Grundidee von AMBIGOAL ist die Zusammenarbeit von Ärzten und (auch akademisch) weitergebildeten medizinischen Fachpersonen in einem Team rund um die Anliegen des Patienten und unter Nutzung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen zur Unterstützung der Prozesse.

      Im Vordergrund steht die Entwicklung neuer Prozessabläufe, welche die horizontale Integration mit anderen Beteiligten in der Kommune aber auch in der Familie und im Kreis der Angehörigen einschließt – von Pflege bis hin zu zivilgesellschaftlichen Ressourcen wie des bürgerlichen Engagements (Machta 2019; McMillan et al. 2013; Larson u. Frogner 2019; Park et al. 2018; Rathert et al. 2013; van Vught et al. 2014). Die Grundidee ist ein Primärversorgungszentrum in dem Ärzte Teile ihrer heutigen Aufgaben an entsprechend qualifizierte nicht-ärztliche Fachberufe delegieren (z.B. Hausbesuch bei chronisch kranken Patienten) und vor allem bei komplexen Situationen, in denen Versorgung, Unterstützung und Gesundheitsförderung sowie soziale Aspekte bedeutsam sind, die horizontale Vernetzung mit anderen in der Kommune vorhandenen Ressourcen zu schaffen – von Pflegedienst über Sozialstation bis zu nachbarschaftlicher Hilfe. Vorbilder dafür gibt es in Deutschland, nur die Finanzierung ist bislang nicht gelöst. Der zweite Pfeiler betrifft die vertikale Vernetzung, d.h. das Einbinden spezialisierter Versorgung, seien es Fachärzte, regionale Krankenhäuser bis hin zu universitärer Spitzenmedizin. Digitalisierung ermöglicht, dass vieles, das früher eine Reise des Patienten zum Ort des Spezialwissens erforderte, heute digital im Primärversorgungszentrum angebunden werden kann.

      Das Konzept muss von vornherein zwei sich diametral widersprechende Trends berücksichtigen: Einerseits werden in der näheren Zukunft nur etwa die Hälfte der heutigen ärztlichen Versorgungsstunden für den persönlichen Kontakt in einer ländlichen Region zur Verfügung stehen, andererseits erwarten Patienten und Betroffene eine intensivere direkte persönlichen Zuwendung im unmittelbaren Kontakt – also mehr Zeit statt weniger.

      Der Kern des Konzepts ist eine funktionierende, arbeitsteilige, multiprofessionelle Zusammenarbeit – horizontal und vertikal sowie über Sektorengrenzen hinweg verbunden mit der Organisation der Prozesse nicht primär nach betriebswirtschaftlichen Optimierungsmöglichkeiten der Anbieter, sondern, soweit wie möglich, nach dem Primat der Patientenzentriertheit. Dies wird nur durch den geschickten Einsatz neuer Berufsfelder und digitaler Lösungen, von denen viele erst noch für diesen Zweck entwickelt werden müssen, gelingen (Azzopardi-Muscat et al. 2019; Blandford et al. 2018; Lennon et al. 2017; O’Connor et al. 2016). Zukunftsfähig ist eher, ein solches Konzept dort zu verwirklichen, wo mangels Nachfolge die primärärztliche Versorgung unmittelbar zusammenzubrechen droht. Die Herausforderung für das AMBIGOAL-Konzept ist, wie die eher überlappenden und allgemeinen Grundforderungen der PPCIC Geneva Convention über die in der Convention benannten zehn Handlungsfelder in die konkrete Praxis umgesetzt werden.

      Die Grundforderungen sind:

      1. Eine integrierte Beziehung zwischen den Personen, die Hilfe suchen und den Personen der Heilberufe durch ein Miteingehen auf die körperlichen, geistigen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse der ganzen Person, einschließlich ihrer Stärken und Schwächen. Ergänzt durch konsequentes Miteinbeziehen der jeweiligen Gesundheits- und Lebensziele

      2. Umsetzung der PPCIC unter Einbezug des gesamten sozialen (und familiären) Kontextes

      3. Koordination der Gesundheitsfürsorge über den gesamten Lebensweg eines Menschen mit Fokus darauf, durch Förderung von Gesundheit, die Krankheitslast der Menschen in den Gemeinschaften zu verringern

      4. Förderung der vertikalen Integration innerhalb des Gesundheitswesens

      5. Horizontale Integration der Gesundheitsversorgung durch die koordinierte Planung der gemeindenahen Leistungserbringung in den Gemeinden und Regionen über mehrere gesellschaftlichen Sektoren hinweg

      Wie kann die erste Forderung, die Integration und das Eingehen auf den ganzen Menschen in einem multiprofessionellen Team, das sich um Anna Zimmer kümmert, bewältigt werden? Ihr „alter“ Hausarzt kannte noch alle Facetten seiner Patienten aus der jahrzehntelangen Betreuung, den Hausbesuchen, den Geschichten auf dem Dorffest, den Begräbnissen, den Hochzeiten, den Geburten, den Taufen oder etwa den Berichten seiner Kinder über ihre Lehrerin Anna Zimmer. Diese Facetten fügten sich für den alten Hausarzt zu einer fluiden, sich entlang des Lebenswegs entwickelten inneren Repräsentanz zusammen. Dann reichte im Einzelfall auch eine ganz kurze Konsultation für das Beziehungsupdate. Wer aber hat in einem multiprofessionellen Team der Zukunft die Zeit, diese Facetten zu erfragen, diese „fluide Gestalt“ zu pflegen und für die anderen im Team verfügbar zu machen? In der Hochschulambulanz in Witten nehmen sich ein Arzt und eine nichtärztliche Fachperson jeweils mindestens eine halbe Stunde Zeit

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