Das Elend der Medien. Michael Meyen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Elend der Medien - Michael Meyen страница 11
Auch für Journalisten hat Bourdieu einen Vorschlag. Sie sollen sich der ökonomischen und politischen Zwänge bewusst werden.154 Er hat zum Beispiel beschrieben, wie sich die Medien unbewusst in den Dienst von Demagogen stellen: Erst bauschen die Journalisten eine Meldung auf und gießen Öl ins Feuer, um sich anschließend »als schöne humanistische Seelen noch einen Tugendpreis dafür zu sichern«, wenn »sie lauthals moralisierend die rassistische Intervention einer Partei verurteilen, die sie überhaupt erst zu dem gemacht haben, was sie ist.«155 Bei der Trump-Wahl 2016 hat sich Geschichte wiederholt. Die Berichterstattung über den Kandidaten entsprach schon im März einem Werbewert von drei Milliarden US-Dollar.156 Dieser Befund hielt kein großes Medium davon ab, über jeden Tweet und jeden Skandal zu berichten und Trump dabei in der Regel zu verdammen.
Wie sich Bourdieu und sein Schüler Patrick Champagne den idealen Journalismus vorstellen, kann man schon im Buch Das Elend der Welt lesen. In Kurzform: weg von Konflikten, flüchtigen Berichten und Dramen, hin zum Alltag.157 Dazu gehöre auch, die Auffassung von ›Politik‹ zu überdenken und das Private einzubeziehen. Für die Journalisten heißt das, schreibt Bourdieu 1992, sich nicht nur für ökologische, antirassistische oder feministische Orientierungen zu öffnen, sondern auch für die diffusen Erwartungen und Hoffnungen der Bürger.158
Zugleich hat Bourdieu einen Mechanismus benannt, der die öffentliche Kritik am Neoliberalismus erschwert. Ihm, dem Franzosen, ist »Anti-Amerikanismus« vorgeworfen worden – in Deutschland, das weiß er, ein »Verdammungsurteil«.159 Bourdieu ist 2002 gestorben. Würde er heute twittern, könnte man sich an einem Shitstorm beteiligen und ihm vielleicht strukturellen Antisemitismus unterstellen. Als »öffentlicher Intellektueller« und Mitgründer von Attac sprach er von der »unsichtbaren Hand der Mächtigen«, der »Hochfinanz« sowie »grenzüberschreitenden Kräften des Finanzkapitals« und hat einen Gegensatz gesehen zwischen den herrschenden, kosmopolitischen Intelligenz-Eliten, die in der Berichterstattung »ganz polyglott« und »multikulturell« daherkommen, sowie dem wachsenden Prekariat, der Arbeiterschaft, den »nationalen« und »provinziellen« Ortsansässigen. Bourdieu stellte den US-Dollar als internationale Reservewährung in Frage. Er beschrieb, wie Weltbank, IWF oder WHO unter Berufung auf die Wissenschaft helfen, Finanzinteressen global durchzusetzen, und wie die Philanthropen Bill Gates und George Soros unter dem Schein der Wohltätigkeit die »immaterielle Ökonomie« und »fleischgewordene Höllenmaschine« des Silicon Valley wie beseelt vorantreiben. Bourdieu relativierte den Nationalsozialismus durch einen Vergleich mit dem Neoliberalismus, erkannte in der Macht der Finanzwelt Züge der »Kolonisation«, sah die europäische Kultur in Gefahr (Kulturpessimist!) und fühlte sich durch die Globalisierung »gezwungen, Dinge zu verteidigen, die man nicht verteidigen möchte: den Nationalstaat.«160
Dass der Gegendiskurs zum Neoliberalismus seinerzeit mit Anti-Amerikanismus gleichgesetzt wurde, erklärte Bourdieu schlicht damit, dass die internationale Finanzökonomie dem US-Modell folgt und damit in ein bestimmtes System von Werten und Überzeugungen sowie einer moralischen Weltsicht eingebettet sei. Somit werde die Kritik am Neoliberalismus automatisch mit den sozialen und kognitiven Strukturen der US-Ordnung verbunden. Um es klar zu sagen: Bourdieus Gegendiskurs richtete sich gegen die neoliberale Politik – und sonst nichts.161 Wie die völkische Gesinnung unter den Intellektuellen im Deutschland der (Vor-)Nazi-Zeit entstand, als »konservative Revolutionäre« mit einer Strategie des Drittens Weges das Gegensatzpaar von Kapitalismus und Sozialismus überwinden wollten, arbeitete er 1975 mit einem Blick auf die politische Ontologie Martin Heideggers heraus.162
Wie dieses Buch entstanden ist
Die Auswahl unserer Interviewpartner soll – und kann – nicht im Ansatz den Anschein von Repräsentativität erwecken. In einer qualitativen Studie geht es um die inhaltliche Repräsentation eines Forschungsproblems (Was ist das ›Elend der Medien‹?). Dafür ist es nötig, möglichst die gesamte Bandbreite sozialstruktureller Einflüsse und anderer theoretisch relevant erscheinender Merkmale zu erfassen.163 Höchstes Gut ist hier intersubjektive Nachvollziehbarkeit.164 Damit ist nicht nur gemeint, dass wir unser methodisches Vorgehen begründen und offenlegen. Sondern mit der verstehenden Methode soll insbesondere der Weg nachgezeichnet werden, auf dem der jeweilige Interviewpartner zu seinem Standpunkt gekommen ist. Das gelingt durch die Kontextualisierung von Positionen. Alle Einzelinterviews sind so geführt worden, dass die habituellen Bedingungen des Wissens als opus operatum und als modus operandi genauso zum Vorschein kommen wie ihre Verortung im sozialen Raum.165 Jedes Gespräch ist für sich konzipiert worden und kann folglich auch einzeln gelesen werden. Zugleich haben wir die Interviews so geordnet, dass sie ›miteinander sprechen‹ – teils als Ergänzung, teils in Konfrontation.166
Der Startschuss für dieses Buch fiel in einer Vorlesungsreihe an der LMU München im Sommer 2019, in der es um die ›Zukunft der Medien‹ ging. Michael Meyen und Sevda Arslan haben dort 19 Medienmacher und Experten eingeladen und gebeten, vor den Studierenden über den Journalismus sprechen – über Kritikpunkte, über Utopien, über Lösungen. Die Auftritte wurden mit einer Kamera aufgezeichnet, transkribiert und im Sinne einer »öffentlichen Wissenschaft«167 auf dem Blog Media Future Lab in Text und Bild publiziert. Mit diesem Material haben wir Problemfelder identifiziert168 und einen Quotenplan für die weitere Auswahl abgeleitet.
Folgt man Bourdieu, dann können bei einer Feldanalyse alle Menschen befragt werden, »die sich für die Einsätze interessieren, um die dort jeweils gespielt wird«.169 Beim Thema Medien wäre das praktisch jeder.170 Um eine »angemessene Repräsentation« zu erreichen, empfiehlt es sich normalerweise, zunächst den Kern eines Feldes besonders gut abzubilden und dann auch abweichende Vertreter aufzunehmen.171 In diesem Buch halten wir es umgekehrt: Uns geht es auch darum, den Kern des journalistischen Feldes zu beschreiben. Vor allem aber wollen wir ›die anderen‹ besonders gut abzubilden. Bourdieu vergleicht Felder mit Magneten. Je stärker sich jemand vom Machtpol angezogen fühlt, desto mehr gehört er dazu. Nach dieser Vorstellung haben wir das Material geordnet: Wir gehen vom Kern des Medienfeldes an die Ränder. Konkret: vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk über die Tagespresse und Alternativmedien hin zu organisierter Medienkritik aus der Zivilgesellschaft und schließlich zu den Frauen und Männern ›von nebenan‹. Wer die Protokolle liest, sieht schnell, an welchen Kriterien wir uns bei der Auswahl orientiert