Das Elend der Medien. Michael Meyen
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Weder für die Auswahl der Befragten noch für die Erhebungssituation möchten wir eine »Illusion der Neutralität« vermitteln. Jenseits des Machtpols haben wir Menschen gesucht, die mit dem Status Quo unzufrieden sind – und diese Kritik wollen wir verstehen. Wir haben mit den Befragten folglich nicht Pro und Contra diskutiert, sondern sie wohlwollend unterstützt. »Anteilnahme«, meint Bourdieu, ist das, was Interviewte dazu bewegt, sich in das Gespräch einzubringen. Die realen Ursachen der Unzufriedenheit kommen erst ans Tageslicht, wenn gemeinsam daran gearbeitet wird.172 Damit ein offenes Gespräch entsteht, benötigt es Vertrauen. Bourdieu und sein Team haben deshalb für Das Elend der Welt viele unterschiedliche Interviewer eingesetzt, die den Interviewten meist direkt oder über ein, zwei Ecken bekannt waren. Wir haben in diesem Buch unterschiedliche Wege der Rekrutierung gewählt (zwischen Distanz und Nähe) und diese jeweils im Vorspann der Kapitel dokumentiert. Die Reflektion unserer Erfahrungen folgt im Fazit.
Blickt man auf die Frames zum Elend der Medien und die Sicht unserer Befragten, kann ein Ergebnis vorweggenommen werden: Der orthodoxe Desinformations-Frame kommt unten nicht an. Das heißt: Dieser Frame spielt in den Interviews kaum eine Rolle. Im Vordergrund steht die Kritik an den Leitmedien. Aber: Ist hier wirklich alles so schlecht? Ist es nicht zynisch, vom ›Elend der Medien‹ zu sprechen, wenn in anderen Ländern Journalisten der Kopf abgeschlagen wird?
Wenn hier von Elend gesprochen wird, ist damit nicht das große situationsbedingte Leid gemeint (»Es gibt schlimmeres, weißt du«), sondern das positionsbedingte, das sich aus der Stellung des Individuums im sozialen Raum ergibt. Man kann sich das positionsbedingte Leid am Beispiel eines Kontrabassisten vorstellen. Sein Orchester zählt vielleicht zu den prestigeträchtigsten des Universums, er selbst jedoch hat eine niedere, unbedeutende Stellung. Je höher das Orchester im Ansehen steigt, desto größer kann der Schmerz sein. Wer die große Not zum Maßstab macht, meint Bourdieu, versagt sich nicht nur, das kleine Leiden wahrzunehmen, sondern versteht auch nicht die soziale Ordnung, »die zwar einiges der großen Not zurückgedrängt hat, aber die Entwicklung aller Formen der kleinen Nöte auch begünstigt.«173
Bei drei der vier hier vorgestellten Frames zum ›Elend der Medien‹ geht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinen Reden mit. Desinformation: Steinmeier warnt vor der Zersetzung der Demokratie durch autoritäre Kräfte im Netz und plädiert für Qualitätsjournalismus. Kommerzialisierung: Er problematisiert die Logik der Plattformökonomie und ermahnt Journalisten, sich an Relevanz zu orientieren und nicht an Klicks. Mainstream: Er beobachtet den Konformitätsdruck unter Journalisten sowie ein enges Meinungsspektrum und wünscht sich deshalb mehr Vielfalt in der Berichterstattung.
Nicht thematisiert hat Steinmeier den Frame des Dritten Wegs. Als Bourdieu sich 1999 mit Günter Grass über Das Elend der Welt unterhielt,174 wurde Steinmeier gerade Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder. Grass erkannte damals ein Problem für die europäische Aufklärung, wenn Vernunft auf das »rein technisch Machbare« reduziert wird. Bourdieu sah den Prozess der Aufklärung in diesem Gespräch durch die politischen Kräfte des Neoliberalismus bedroht. Steinmeier wurde dann ›Architekt‹ der deutschen Reformen und betrieb damit in Bourdieus Worten einen »Machtmissbrauch im Namen der Vernunft«. Das homologe grün-rote journalistische Milieu vollzog die neoliberale Wende mit und beklagt heute das postfaktische Zeitalter. Blickt man auf Bourdieus Konzeption des Sozialraums, dann lässt sich theoretisch sagen: Unsere Demokratie ist nicht von ›rechts-unten‹, sondern von ›links-oben‹ gefährdet. Und was sagt die Empirie?
1Vgl. Franz Schultheis: Editorische Vorbemerkung zur Erstausgabe. In: Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997, S.12f, hier 12
2Vgl. Patrick Champagne: Die Sicht der Medien. Ebd., S. 60-68
3Vgl. Franz Schultheis: Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse. Ebd., S. 430-439, hier 437
4Vgl. Franz Schultheis: Vorwort zur Studienausgabe. Ebd., S. 9-11, hier 9
5Vgl. Günther Grass, Daniela Dahn, Johano Strasser: In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Göttingen: Steidl 2002
6Vgl. Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz: UVK 2005 (seit 2017: Köln: Herbert von Halem)
7Vgl. Shirin Sojitrawall: »Was uns wütend macht«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Februar 1998
8Vgl. Schultheis, Schulz: Gesellschaft mit beschränkter Haftung, S. 10
9Pierre Bourdieu: Die Abdankung des Staates. In: Das Elend der Welt, S. 117-134, hier 128
10Vgl. Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Konstanz: UVK 2004, S. 55. – Siehe auch: Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999
11Vgl. Pierre Bourdieu: Der Lauf der Dinge. In: Das Elend der Welt, S. 69-86
12Pierre Bourdieu: Die Abdankung des Staates. Ebd., S. 129
13Vgl. Michel Pialoux: Der alte Arbeiter und die neue Fabrik. Ebd., S. 302-310
14Vgl. Pierre Bourdieu: Ein verlorenes Leben. Ebd., S. 258-268
15Vgl. Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013. – Siehe auch: Wolfgang Merkel (Hrsg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: Springer VS 2015
16Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Ditzingen: Reclam 2019, S. 10
17Vgl. Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004
18Lessenich: Grenzen der Demokratie, S. 11
19Vgl. Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann 2015
20Vgl. Armin Nassehi, Peter Felixberger