Syltmond. Sibylle Narberhaus
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»Hallo! Ist jemand da?«, rief ich ein weiteres Mal, als ich direkt vor der hinteren Wagentür stand. Da abermals niemand antwortete, öffnete ich kurzerhand die Tür.
Kapitel 5
Der Schäferhund spitzte die Ohren und hob neugierig den Kopf in Richtung der Tür. Als sie geöffnet und mit ihr ein Schwall kalter Luft in die Diele gespült wurde, erklangen zeitgleich Stimmen, untermalt von ausgelassenem Gelächter.
»Es hat nicht viel gefehlt und er hätte sich die … Sönke!« Mitten im Satz hielt sie inne und starrte auf den Mann, der mit dem Rücken zur Wand am Küchentisch saß. Neben ihm lag auf einer ausrangierten Decke der Schäferhund. Seinem Ohrenspiel nach zu urteilen, verfolgte er jede Bewegung aufmerksam.
Sönke wollte sich erheben, doch der sanfte, aber bestimmte Druck, mit dem ihm seine Mutter ihre Hand auf den Unterarm legte, ließ ihn von seinem Vorhaben abweichen.
»Lange her, Bruderherz«, stellte Ole Brodsen fest, der kurz nach seiner Frau die Küche betrat. Das plötzliche Auftauchen seines Verwandten schien ihn keineswegs zu beeindrucken, denn er ging zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier heraus. »Bier?«
Sönke schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Was suchst du hier? Verschwinde! Wir wollen dich hier nicht haben«, fauchte Friederike und funkelte den Eindringling böse an, nachdem sie sich von dem ersten Schrecken erholt hatte.
»Halte dich zurück, Friederike! Das ist immer noch mein Haus, in dem ich bestimme, wer sich darin aufhält und wer nicht, auch wenn du das anders sehen magst«, machte Geeske Brodsen unmissverständlich deutlich und sah ihre Schwiegertochter streng an.
Friederike lag eine Antwort auf der Zunge. Nur dem warnenden Blick ihres Ehemannes war es zu verdanken, dass sie ihrer Schwiegermutter nicht widersprach, stattdessen ihren Kommentar unausgesprochen hinunterschluckte.
»Ich hätte mich nicht von dir überreden lassen sollen, herzukommen«, bemerkte Sönke an seine Mutter gewandt.
»Was willst du auf Sylt?«, erkundigte sich Ole, öffnete die Bierflasche und trank einen Schluck daraus. Anschließend zog er sich einen Küchenstuhl vor und nahm darauf Platz.
»Das ist klar! Kaum ist der Vater unter der Erde, steht der feine Herr Sohn auf der Matte und fordert sein Erbe ein. Ganz einfach!«, giftete Friederike Brodsen.
»Nein, deshalb bin ich nicht gekommen«, erwiderte Sönke ruhig, nachdem er sich mit der Antwort eine Weile Zeit gelassen hatte. Er sah zu dem Hund neben sich und kraulte ihn auf dem Kopf, was das Tier sichtlich genoss.
»Ach ja? Und weshalb bist du gekommen? Sehnsucht nach der Familie wird es kaum sein.« Sie lachte höhnisch. »Wieso bist du überhaupt schon draußen? Wenn ich mich nicht verrechnet habe, hast du deine Strafe längst nicht abgesessen. Haben sie dich etwa wegen guter Führung vorzeitig entlassen?« Er schwieg, doch seine Augen ruhten unablässig auf ihr, während sie sprach. »Allen anderen magst du vielleicht was vorspielen können, mir nicht! Für mich bist und bleibst du für immer ein Mörder!« Über ihr gesamtes Gesicht verteilt zeichneten sich hektisch rote Flecken ab, während ihre dunklen Augen winzige Giftpfeile in seine Richtung abzufeuern schienen.
»Genug. Sei endlich still, Rieke!« Ole stellte lautstark die Flasche auf dem Tisch ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Friederike verstummte augenblicklich. Dann schleuderte sie ihrem Mann einen wütenden Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und verließ wutentbrannt die Küche, deren Tür sie mit einem lauten Knall hinter sich zuschlug. Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
»Ich sollte besser gehen.« Sönke Brodsen erhob sich von seinem Platz und griff nach seiner Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Dann bückte er sich und hob die Tasche auf, die neben ihm auf dem Boden lag. Der Hund stand sofort neben ihm bei Fuß.
»Junge, bitte bleib! Wo willst du denn mitten in der Nacht hin?«, versuchte Geeske, ihn erneut vom Gehen abzuhalten.
»Es ist besser, Mutter.« Er schulterte sein Gepäck und nickte im Vorbeigehen seinem Bruder zu, der zurückgelehnt auf seinem Stuhl lümmelte, die Bierflasche in der Hand.
»Du musst hierbleiben.« Sönke klopfte dem Hund zum Abschied auf den Rücken.
Kapitel 6
Entsetzt wich ich zurück und stieß mir dabei gehörig den Ellenbogen an der halb geöffneten Wagentür. Ich starrte in weit aufgerissene, leblose Augen, die mich meinen Schmerz auf der Stelle vergessen ließen. Vor mir auf dem Boden des Rettungswagens lag eine Frau auf dem Rücken, den Kopf nach hinten gestreckt inmitten einer riesigen Lache aus Blut, das aus einer weit aufklaffenden Wunde an ihrer Kehle sickerte. Mit der Hand vor den Mund gepresst, konnte ich mit Müh und Not ein Würgen unterdrücken und wandte sofort meinen Blick ab. Für einen kurzen Augenblick schloss ich die Augen und zwang mich, gleichmäßig zu atmen. Dann rannte ich so schnell mich meine Beine trugen zurück zu Nick und den anderen. Unterwegs knickte ich im Halbdunkel ein paar Mal auf dem unwegsamen Gelände um und geriet ins Straucheln. Dabei rempelte ich den einen oder anderen Biikebesucher an, der mir einige verärgerte Worte hinterherrief, doch das alles nahm ich kaum wahr. Nach wie vor schwebte vor meinem inneren Auge der grauenhafte Anblick der Frau in der Blutlache. Wie ferngesteuert erreichte ich schließlich unsere kleine Gesellschaft. Doktor Luhrmaier nebst Begleitung hatte sich unserer Gruppe in der Zwischenzeit angeschlossen.
»Anna! Sind sie hinter dir her?«, scherzte Jan.
»Was ist passiert? Du bist ja schneeweiß.« Nick unterzog mich einem kritischen Blick.
»Im Rettungswagen liegt eine Tote!« Ich japste vollkommen außer Atem und mit staubtrockener Kehle nach Luft.
»Bist du ganz sicher?«, hakte Tina vorsichtig nach.
»Absolut sicher. Ich glaube, es handelt sich um ein Verbrechen«, betonte ich und sprach leise, um möglichst kein Aufsehen bei den umstehenden Biikebesuchern auszulösen.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Komm, Uwe! Es wäre sinnvoll, wenn Sie, Herr Doktor Luhrmaier, mitkommen könnten«, forderte Nick die beiden Männer auf.
»Selbstverständlich!«, kam Luhrmaier Nicks Bitte pflichtbewusst nach und drückte daraufhin seiner verdutzten Begleiterin seinen Glühweinbecher in die Hand.
»Ich komme auch mit.«
»Willst du das wirklich, Anna?« Uwe runzelte die Stirn.
»Ja, schließlich weiß ich, wo sie liegt.« Dann wandte ich mich an Britta. »Kannst du dich bitte um Christopher kümmern? Ich weiß nicht, wie lange es dauert.«
»Kein Problem«, gab sie mit verständnisvoller Miene zurück.
»Ich zeige den beiden bloß die Stelle, dann komme ich gleich wieder«, versprach ich und versuchte, die drei Männer einzuholen, die sich längst auf den Weg gemacht hatten.
Bereits von Weitem konnte ich schemenhaft mehrere Personen erkennen, die am Rettungswagen standen und aufgeregt gestikulierten. Erst, als wir unmittelbar vor ihnen standen,