Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise. Hans-Joachim Bittner
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Sein Spezl Georg erlebte ähnliches: In Mexiko-City, vorm Flughafen, hielt der Schorsch Ausschau nach einem Busbahnhof. Er wollte gleich weiter, nach Guatemala, vermutete dort seinen Freund. Da stand ein Auto, daneben zwei junge Burschen. Sie machten einen gelangweilten Eindruck, sie „chillten“ wohl. Plötzlich hatte der ratlose Deutsche einen Revolver am Kopf. Mit erhobenen Händen musste er losgehen … – bis er merkte, dass sich die beiden einen höchst üblen Scherz erlaubt hatten. Als er nichts mehr hörte, drehte er sich vorsichtig um und sah die Frechen nicht mehr. So schnell wie möglich löste der Schorsch ein Ticket, bestieg einen Bus und verschwand aus dem Moloch Mexiko-City Richtung Quetzaltenango (für die Einheimischen Xelajú, kurz Xela, gesprochen „Schela“): Umgeben von hohen Vulkanen, ein belebter, farbenfroher Ort voller Indios, im Südwesten Guatemalas nahe der berühmten Panamericana, zirka 140.000 Einwohner.
Jetzt war Georgs Urlaub vorbei. Er musste heimfliegen. Stefan wollte ein Jahr wegbleiben, darauf war die Reise ausgelegt. Acht Monate lagen hinter ihm. Zeit war also noch übrig, reichlich, aber das Ende seiner finanziellen Mittel nahezu erreicht. Nach rund 4.000 Kilometer radeln zwischen Mexiko und Costa Rica und Erlebnissen, die für zwei Leben reichten, war kaum noch Geld übrig. Er deponierte sein Rad in einem Hotel am Pazifik, denn er wusste, dass er wiederkommen würde. Er holte es später tatsächlich ab, bei einer erneuten Lateinamerika-Reise.
Stefan jettete zurück nach Mexiko, um seinen Rückflug nach Deutschland umzubuchen. One-Way-Tickets gab es damals nicht. Die Flüge waren unglaublich teuer, 2.200 D-Mark. Alles sollte jetzt locker auf ihn zukommen, das wollte er. Er kam zurück zu Nadia und ihrer Familie, die ihn so herzlich aufgenommen, so sanft (gesund)-gepflegt hatte. Und wo noch eine Herzsache auf ihn wartete. Sie war noch immer schwanger, na klar. Mehr denn je. Ihr Streifenhörnchen hatte Familie und Kinder, die natürlich nichts von ihrem „außertourlich beschäftigten“ Ehemann und Papa wussten. Genauso wenig wie Nadias Mutter samt Schwestern und Bruder, dem Aufpasser, dem Beschützer. Der Polizist ließ Nadia im Stich, ließ sie links liegen. Sie saß in ihrem Dorf, mit 17, knapp 18 – und hatte keine Chance. Andere Männer interessierten sich nicht für sie, nicht in „diesem Zustand“, nicht „derart befleckt“.
Stefan erzählte ihnen alles. In gutem Spanisch. All seine Erlebnisse. Nach drei, vier Tagen war es perfekt, sein Castellano. „Da lernte ich mehr als zuvor in einem Monat. Sie wollten alles wissen.“ Und er musste zusehen zurückzukommen. Die Zeit drängte. „Ich musste abchecken, was in Deutschland los ist, mit der Familie, wie es für mich weiterging, beruflich.“ In Nadias Familie war er längst integriert, ihre Mutter hatte Stefan in ihr Herz geschlossen. Sie zog vier Kinder groß, allein. Mit ihrer kleinen Hühnerbraterei brachte sie alle durch. Harte, schweißtreibende Maloche auf offener Straße, ein Pizzaofen, den die älteste Tochter betrieb, ein kleines Lokal dabei. Als Stefan ein paar Monate zuvor dort ankam, sah er drei hübsche Mädels und einen skeptisch dreinblickenden Bruder, der in der Küche schuftete und ihn gleich mal prüfte: Wo er überhaupt herkomme, was er überhaupt hier wolle. Stefan hatte Hunger, großen Appetit. Das gefiel dem mexikanischen Quartett: Der Mutter, dem Bruder, der einen Schwester und auch der anderen, dem Küken, dem Püppi, die mit ihrem Plingpling-Augenaufschlag irgendwie für nichts zuständig war und nichts tat. Ein „Wienerwald“ mit Sombrero. Das gefiel dem Gringo aus Bayern.
Sie luden „ihren Esteban“ (= spanisch für Stefan) ein. Nach Acapulco, touristisches Mexiko-Highlight. „Ich wollte da nicht hin. 30 Stunden Fahrt, nur um Hotels und Strand zu sehen und Ausflüge zu machen, dorthin wohin die Mexikaner am liebsten reisen. Das war nicht mein Ding. Außerdem konnte ich mir das gar nicht leisten.“ Doch er musste sich gar nichts leisten, er musste mit, ohne Diskussion. Nadias Bruder gab keine Ruhe, er hatte Stefan wohl schon als seinen neuen Schwager auserkoren. Es kostete ihn keinen Peso, sie bezahlten alles. Der Mutter war es egal, ob sie für fünf oder sechs „Kinder“ aufkam. Und es wurde enger, mit Nadia. Sie erzählte Stefan so viel, er gefiel ihr, sie gefiel ihm. Und der Polizist, der Vater, wusste nun auch von der Schwangerschaft.
Stefan hatte nichts zu beichten. Aber er brachte Nadias Familie bei, was los war. Ausgerechnet er, der Gringo, vom Leben noch keine Ahnung. „Die Mutter fiel fast in Ohnmacht.“ Eine der Schwestern ebenso, Plingpling blieb cool. Der Bruder reagierte ruhig und blieb seiner Rolle als zurückhaltender Beschützer des Clans treu. Sein Leben würde er jederzeit für jenes der Familie hergeben. Aber die Mutter weinte: „Schon wieder ein Leben kaputt.“ Kein Studium mehr möglich, für Nadia, keine Schule, kein grüner Zweig, kein Leben. Sie schimpfte auf die Scheiß-Männer, drei Wochen lang, und beruhigte sich wieder. Aufgewühlt und müde. Jetzt musste nüchtern gedacht und gehandelt werden. Die beiden anderen Töchter, die gleichfalls hübschen, fragten Stefan, ob ihm Nadia gefalle. Plingplings Charme wirkte …
Zwillinge
Sie gefiel ihm, nach wie vor. So wie das Leben in Ciudad Serdan, bei der Mutter, Nadia, ihrem Bruder und dem ganzen Clan. „Dass ich mit gerade mal 21 das alles erleben durfte, war schon bewegend. Sie nahmen mich auf wie einen Sohn.“ Er hatte tagtäglich Mini-Highlights, und eigentlich hatte er ganz andere Pläne, war voller Tatendrang. Der Traum des Bergführer-Jobs wurde schwächer. „Mit ihr zieh ich es durch“, reiften die Gedanken, ganz langsam: Familie. Und schon kamen die sorgenreichen Fragen: „Bin ich zu jung? Bin ich reif genug? Für ein Kind. Ohnehin nicht von mir. Ich bin nur Landschaftsgärtner. Ich muss heim.“ Er kannte das, dieses Gefühlschaos, es begleitete ihn seit etlichen Jahren.
Sie landeten in München, Nadia und er. Schnurstracks ging es in seine 38-Quadratmeter-Intimsphäre in Jechling, Gemeinde Anger. In der Zeit, als er weg war, wohnte eine Röntgenassistentin dort. Er hatte sie rechtzeitig von seiner Rückkehr informiert. Sie zog aus, wie vereinbart.
Da standen sie plötzlich: Stefan, voller Erlebnisse, Eindrücke und Emotionen nach seiner ersten langen Reise, mit erst 21. Und Nadia, so jung, gerade 18, hochschwanger, eine feurige Mexikanerin mitten in einem kleinen Dorf im tiefsten Oberbayern. Beim Nitzinger-Bauern holte sie unbedarft frische Milch und war schlagartig Gesprächsthema Nummer 1, im Ort. Das Kleinbürgertum hatte alles im Griff.
Stefan bürgte für sie, am Flughafen, damit sie nach drei Monaten nicht zurück musste. Ihr Touristenvisum galt nicht ewig. In München hatten sie ihn auseinandergenommen. Nach Strich und Faden. Knallharte Einwanderungsbehörde, ohne Gnade. Es erwischte ihn wie eine Lawine, total unvorbereitet: „Ich war ja so grün hinter den Ohren, so naiv. Ich dachte: Na ja, setze ich mich halt mal eine halbe Stunde hin.“ Sie filzten ihn rigoros, von Kopf bis Fuß und nach mehr. Nach Drogen, Alkohol, Schmuggelware. Stundenlang. Sie vermuteten alles bei ihm. Sogar Zuhälterei. Aber keinen harmlosen bayerischen Gringo, der einfach nur ein braver Familienpapa werden wollte. Sie fanden nicht mal Geld bei ihm, so blank kam er zurück. Sie ließen ihn gehen und blieben skeptisch zurück.
Stefan verstand das alles nicht. Er brachte doch nur seine Freundin mit. Hochschwanger. Das war freilich das „Sahnehäubchen“. Er brachte sie mit, in einen völlig neuen Kulturkreis, ein Schock für die junge Frau. Er rief seine Eltern an und teilte ihnen mit, dass er wieder hier sei und sie Hunger hätten. Die Eltern verwirrte die Wir-Form, in der ihr Sohn sprach. Sie brachten zwei Pizzen mit, sicherheitshalber. Und sahen die Überraschung, als sie in Stefans Wohnung kamen. „Sie waren erstaunt, klar, schlossen Nadia aber sofort in ihr Herz.“ Er klärte sie auf: Dass es gar nicht seine Kinder seien, die im Bauch seiner Freundin heranwuchsen. Kinder? Er wusste nun, dass es Zwillinge werden würden …
„Die Leute sehen ohnehin nur das, was sie sehen wollen.“ Nadia war es sehr wichtig, dass er nach Außen der leibliche Vater sei. Und so war er der Vater. Punkt. Auf dem Papier wurde er das mit der Heirat im August 1992, amtlich beglaubigt, standesamtlich eingetragen in Anger, im Rathaus beim Bürgermeister Graßl, gleich neben der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt.