Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
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Читать онлайн книгу Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus страница 17
Die Gesamtelternvertretung von Benjamins Schule organisierte jedes Jahr eine klassenübergreifende Eltern-Schüler-Fahrt in Form eines verlängerten Wochenendes. In diesem Jahr beschloss ich, daran teilzunehmen, weil ich dies als gute Gelegenheit zum Austausch mit anderen Eltern und zum Kennenlernen von Schülern, welche die Schule meines Sohnes besuchten, empfand. Da Leon keinen Urlaub bekam, fuhr ich mit Benjamin und Conrad in dieses malerisch an einem See gelegene Camp. Gleich der erste Tag war mit Aktionen angefüllt, sodass bei Benjamin keine Langeweile aufkam. Nach der Fahrt mit einer Pferdekutsche, wo mein Sohn neben dem Kutscher auf dem Kutschbock sitzen durfte und darüber äußerst erfreut war, wanderte ich mit meinen Söhnen ins Nachbardorf, um dort üppig dekorierte Rieseneisbecher zu vertilgen. So verbrachten wir die Zeit bis zum Abend störungsfrei und fanden uns beim Dunkelwerden am großen Feuerplatz ein. Ein Lagerfeuer wurde entzündet und die Kinder konnten Spießbrot backen, wofür sie den Teig selbst hergestellt hatten. Zu meiner Enttäuschung und Entrüstung saßen die anderen Eltern jedoch phlegmatisch am Feuer, rauchten, tranken Alkohol in Gegenwart ihrer Kinder und redeten fast nur über Fußball. Da sich zudem auf früheren Fahrten bereits Cliquen gebildet hatten, fand ich keinen Anschluss. Anabels Mutter, die ebenfalls zum ersten Mal mit ihren beiden Töchtern an dieser Fahrt teilnahm, erging es genauso und so leisteten wir uns gegenseitig Gesellschaft.
Am folgenden Morgen erfuhren wir von der Leitung des Camps, dass das verlockende Seeufer verschilft sei und dass diese Seite des Sees aus Naturschutzgründen nicht zum Baden freigegeben war. Conrad hatte sich sehr auf das Baden gefreut und nachdem ich Benjamin im vergangenen Sommer zum ersten Mal in einen See gelockt hatte und er dabei seine Angst vor den winzigen, flink umherschwimmenden Stichlingen überwinden konnte, wollte ich dieses Erfolgserlebnis hier festigen, was aber nun bedauerlicherweise ins Wasser fiel. Zum Glück beinhaltete unser Gepäck die riesigen Wasserpistolen der Kinder und so lieferten sich Conrad und Isabel wenigstens ausgiebige Wasserschlachten. Mein mittlerer Sohn verbrachte den gesamten Vormittag damit, ganz allein in einem gigantischen Sandkasten zu sitzen und die warmen, blassgelben Körnchen beglückt durch seine Finger rieseln zu lassen. Ich wusste, dass er Stress abbauen musste, und ließ ihn gewähren. Am Nachmittag gelang es mir, Benjamin das Tischtennisspielen beizubringen, und wir besuchten eine Bastelstunde mit Naturmaterialien, wo mein Sohn durch eine elegante Raupe aus Kiefernzapfen das Aufsehen der anwesenden Erwachsenen erregte. Gegen Abend überzeugte ich Benjamin mühsam, zu den Jungen aus seiner Schule zum Billardspielen zu gehen, denn Billard konnte er bereits seit seinem vierten Geburtstag gut spielen. Ich begleitete ihn bis zur Tür des Clubraumes und beobachtete, wie er zielstrebig auf die Jungen zuging, etwas schwer Verständliches sagte und beherzt nach einem Queue griff. Ein wenig älterer, gehbehinderter Knabe stellte sich vor meinem Sohn auf und bellte ihn an: „Du lern erst mal richtig sprechen, bevor du mit uns spielen darfst.“ Benjamin zog seine Hand zurück, verließ wortlos den Raum und marschierte wieder zur Tischtennisplatte, um unser vorheriges Spiel erneut aufzunehmen, obwohl sich bereits die aufkommende Dunkelheit über die gesprenkelte Steinplatte senkte. Die Kinder im Billardraum brachen in schallendes Gelächter aus und ich verfiel in völlige Hilflosigkeit. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass auch behinderte Kinder so gehässig zueinander sein konnten. Wieso aber eigentlich nicht? War ich zu naiv und wie verhält man sich in so einer Situation als Elternteil richtig? Ich wusste es nicht und war froh, dass die Abenddämmerung meine Tränen, welche auf die Tischtennisplatte tropften, verbarg. Hatte ich mir zu viel vorgenommen?
Der gesellige Abend mit Grillen, Musik und Tanz verlief nicht viel anders als der Abend am Lagerfeuer am Tag zuvor. Außer ein paar Höflichkeitsgesprächen kam kein Austausch zwischen mir und anderen Anwesenden zustande. Ich war froh, als mich Benjamin gegen zweiundzwanzig Uhr in unser Zimmer zerrte, um ins Bett gehen zu können. Eingeschlafen ist er dann allerdings erst vier Stunden später. In der nicht enden wollenden Nacht telefonierte ich aus Sehnsucht und Heimweh mit Leon und erfuhr dabei, dass sich Conrads Aufnahmebescheid für das gewünschte Gymnasium in der Post befunden hatte. Das war genau die gute Nachricht, die ich jetzt zum moralischen Wiederaufbau benötigte. Den dritten und letzten Tag füllten wir neben dem Essen von Eis ganz unspektakulär mit Tischtennisspielen, wobei Benjamin durch sein fleißiges Üben erstaunliche Fortschritte erreichte. In den folgenden Jahren nahmen weder wir noch Anabels Familie ein weiteres Mal an diesen Fahrten teil.
Conrad schleppte nicht nur die Pokémons in unsere Familie ein, sondern generierte mit seinem Interesse an der Star-Wars-Saga ebenfalls ein neues Verlangen bei seinem Bruder. Völlig einsichtig akzeptierte Benjamin allerdings, dass er mit seinen acht Jahren nur die Filme, welche eine Altersfreigabe ab sechs Jahren hatten, sehen durfte. Wir mussten ihm dazu lediglich das entsprechende Siegel auf der Filmverpackung zeigen. Ebenso wie bei den Pokémons sammelte unser Sohn nicht nur Wissen, sondern auch Produkte zum Thema Star Wars. Und wiederum hatte ich mit dieser neuerlichen Begierde ein wunderbares Motivationsmittel an der Hand. Als der Film „Star Wars Episode I – Die dunkle Bedrohung“ in die deutschen Kinos kam, gab es in den Frühstücksflocken eines bekannten Herstellers Plastikfiguren zum Sammeln. Am Anfang lief alles ganz entspannt. Conrad und Benjamin sammelten, tauschten untereinander und gaben Figuren, die sehr häufig vorkamen, Pascal zum Spielen. Je mehr Figuren unser mittlerer Sohn allerdings besaß, desto unruhiger wurde er, weil er unbedingt alle zehn Sammelfiguren in seinen Besitz bringen musste. Als er acht verschiedene Figuren sein Eigen nannte, konnte er überhaupt nicht mehr schlafen und kam andauernd aus dem Bett, um zu fragen, ob wir am nächsten Tag eine Packung „Müsli“ kaufen werden. Da dieser Zustand unerträglich wurde, beschloss Leon entgegen unseren sonstigen Prinzipien, am Wochenende Frühstücksflocken auf Vorrat zu kaufen. In den ersten zwei Packungen, welche Leon mitbrachte, fand sich sofort Figur Nummer neun, ein Umstand, welcher allerdings wenig beruhigend auf Benjamin wirkte. Im Gegenteil, die Sorge um die zehnte Figur war so allmächtig, dass bei unserem Sohn keine Freude aufkam. Conrad und Leon liefen an diesem Samstag noch einige Male los, um weitere Packungen zu kaufen, aber erst in der zwölften Schachtel fanden wir die begehrte Statue. Benjamin reihte sie mit tiefer Erleichterung in die Schlange der anderen Figuren in seinem Setzkasten ein und ging in den kommenden Tagen immer wieder zu dieser Ansammlung hin, um zu überprüfen, ob auch alles seine Ordnung hatte. Unserem Ältesten misslang es übrigens, seine Sammlung zu vervollständigen, was ihn jedoch nicht sonderlich grämte. Mit dieser seltsam anmutenden Aktion haben wir uns ein Stück Nachtruhe im wahrsten Sinne des Wortes zurückgekauft.
Sicherlich war Benjamin so fasziniert von der Star-Wars-Saga, weil sich ein steter Kampf zwischen Gut und Böse durch die gesamte Handlung zieht, sodass die Geschichte wie ein modernes Märchen anmutet. Nach dem Anschauen des ersten Films aus dem Jahr 1977, den wir bei einer Ausstrahlung im Fernsehen auf einem Videoband aufgenommen hatten, wünschte sich Benjamin einige Zeit später das digital aufgearbeitete Werk als Geschenk. Beim ersten Abspielen kommentierte er aufgeregt jede noch so kleine Verbesserung im Film, sei es nun ein grellerer Lichtblitz, ein Monster, welches mehr Zähne aufwies, oder eine kurze Szene, die mit dem damaligen Stand der Technik noch nicht realisierbar gewesen war. An einigen Stellen seiner Ausführungen waren wir ungläubig, wurden aber beim Vergleichen der Bänder immer eines Besseren belehrt.
Es war nicht schwer vorherzusehen, dass Frau Ferros die Star-Wars-Filme verurteilen wird, obwohl ich vermutete, dass sie selber diese Filme nie angeschaut hatte. Um Benjamin weitere Probleme zu ersparen, versuchten wir ihm zu erklären, dass er mit seiner Lehrerin besser nicht über diese Filme reden sollte. Aber er verstand uns nicht und es kam, wie es kommen musste. Frau Ferros regte sich bei jeder Gelegenheit über alles, was auch nur im Entferntesten mit dem Thema Star Wars zu tun hatte, auf und versuchte, Benjamin mit aller Macht davon abzubringen, sodass unser Sohn hin- und hergerissen war, weil er nach Meinung seiner Lehrerin die Filme nicht sehen durfte, seine Eltern es ihm aber erlaubten. Ich fragte mich damals, ob Frau Ferros die anderen Jungen der Klasse, welche die fraglichen Filme auch ansehen durften, ebenso bedrängte.