Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus
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Читать онлайн книгу Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln - Inez Maus страница 16
Die Tomatis-Methode und Therapien, die sich daraus ableiteten, schienen uns immer wieder einzuholen. Benjamins Ergotherapeutin Jenny legte uns eine erneute Hörprüfung sowie die sofortige Durchführung eines Horchtrainings dringend ans Herz. Da Jenny bis jetzt systematisch, mit fundierten Kenntnissen und erfolgreich mit Benjamin gearbeitet hatte, ließen wir uns überreden und schleppten unseren Sohn in die von ihr empfohlene HNO-Praxis, um dann nach mehreren Terminen erneut zu erfahren, dass keine periphere Hörstörung vorliege und alle Befunde im Normalbereich seien. Uns wurde eine logopädische Therapie vorgeschlagen, von einer auditiven Wahrnehmungstherapie nach Tomatis hielt dieser Arzt nichts. Diese Strapaze hätten wir Benjamin ersparen können, aber uns erging es mit unserer Unsicherheit und der Suche nach besseren Therapien oder Wundermitteln sicherlich wie vielen Eltern in vergleichbarer Situation: Wenn sich etwas verlockend anhört, muss es zumindest erst einmal näher betrachtet werden. Alfred A. Tomatis war ein französischer HNO-Arzt, der die Auffassung vertrat, dass „eine Veränderung der Hörfähigkeit automatisch eine Veränderung der Stimme und des Verhaltens zur Folge hat. […] Die Erkenntnis, daß die Psyche das Hören- bzw. Nichthörenwollen unbewußt beeinflußt, führte ihn zu ausgedehnten Versuchen, auf den Hörvorgang Einfluß zu nehmen.“2 In der Therapie werden verschiedene Frequenzen aus Musikstücken, meistens von Mozart, oder aus Stimmaufnahmen der Mutter herausgefiltert, um dann bei der Wiedergabe der Tonbänder die Entwicklungsschritte des Horchens nachzuvollziehen. Schon zwei Jahre zuvor hatte uns Leons Vater auf einen Zeitungsartikel hingewiesen, in dem über ein Hörstudio für Audio-Psycho-Phonologie berichtet wurde. Leon besuchte daraufhin einen Informationsabend in dieser Einrichtung, kam aber ziemlich enttäuscht nach Hause, weil ihn die angeführten wissenschaftlichen Grundlagen der Therapie nicht überzeugt hatten, und meinte dazu: „Einfache Antworten auf komplizierte Fragen machen mich prinzipiell skeptisch.“ Er brachte einen Kostenvoranschlag mit, nach dem die erste Kur in drei Teilen knapp 4000 DM kosten würde, weitere notwendige Teile von je acht Tagen täten dann 750 DM kosten. Da die Therapie nicht von den Krankenkassen anerkannt wurde, hätten wir diese Kosten selbst zu tragen. Als wir die Preisliste weiterlasen, kamen wir zu dem Punkt, dass für behinderte Kinder ab der achten Kur „nur“ noch 630 DM pro Teil bezahlt werden mussten. Nach langen Diskussionen entschieden wir, dass wir dieses Geld besser in Lernmaterial und Therapiegegenstände investieren sollten.
Aber damit war dieses Thema noch nicht vom Tisch. Ein halbes Jahr bevor Jenny mich auf die Tomatis-Therapie ansprach, erzählte mir Anabels Mutter ganz aufgeregt, dass sie jetzt mit ihren beiden Töchtern an einer derartigen Therapie teilnahm. Die Kosten für Anabel übernahm der „Spastikerverband“, für Isabel musste sie nur sehr wenig bezahlen, weil es bei Zwillingen erhebliche Rabatte gab. Während die beiden Mädchen sich dieser Therapie unterzogen, besorgte ich mir alle verfügbaren Bücher von Alfred A. Tomatis und studierte sie. Auch nach dem Lesen der Originalliteratur war ich von der Methode nicht überzeugter als eineinhalb Jahre zuvor. Im Flyer der Fachgemeinschaft für Audio-Psycho-Phonologie verwirrte mich die Aussage, dass eine Unmenge von Störungen bis hin zu schwersten Behinderungen durch diese Behandlung gemildert oder geheilt werden könnten. Nach Beendigung der Therapie der Zwillinge befragte ich ihre Mutter nach den Erfolgen, in der Hoffnung, jetzt eine wundervolle Geschichte zu hören, damit auch wir uns auf diese Therapie stürzen konnten. Anabels Mutter erzählte mit leicht enttäuschter Stimme, dass sie das Gefühl habe, dass Anabel sich jetzt ein bisschen besser und ein wenig länger aufrichten konnte. Und Isabel, die etwas hyperaktiv und motorisch ungeschickt sei, schaffe es, über kleinere Hindernisse zu springen. Vor der Therapie sei sie mit Sicherheit das einzige Kind gewesen, welches hinfiel, wenn alle Kinder über ihre aufgereihten Schultaschen sprangen. Aber wie konnte man jetzt sagen, ob sich diese kleinen Fortschritte nicht auch ohne diese Therapie eingestellt hätten? Das war unmöglich, also beschlossen wir ein zweites Mal, von dieser Therapie Abstand zu nehmen. Umso mehr verwundert es mich im Nachhinein, warum wir dieses Thema noch ein drittes Mal aufgriffen. Dieses Mal las ich im Internet Unmengen von Fallberichten, welche mich ebenfalls nicht überzeugen konnten. Unsere dreimalige ablehnende Entscheidung war letztendlich wohl richtig, denn: „Es ist zu vermuten, dass unspezifische Effekte, die in Verbindung mit dem auditorischen Integrationstraining auftraten, wie mehr Aufmerksamkeit durch die Eltern, Üben von ruhigem Sitzen, Erwartung der Eltern, eher einen Einfluss zeigten als die Therapie selbst […]. Die auditorische Integrationstherapie ist deshalb als eine zu unspezifische Therapie zu werten, die für die Förderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen nicht ausreicht […].“3
Erfahrungen mit „unspezifischen Effekten“ wie „mehr Aufmerksamkeit durch die Eltern“ konnten wir bereits mit Conrads Neurodermitis-Erkrankung sammeln. Diese brach unmittelbar nach Benjamins Geburt aus und wurde trotz verschiedener Behandlungen wie Bäder und Salben immer schlimmer. Leon stieß damals bei seinen Recherchen auf eine private Klinik in den Schweizer Alpen und schickte uns für zwei Wochen dorthin, während er sich zu Hause um Benjamin kümmerte. Jene Klinik versprach, durch eine spezielle Diät diese Hautkrankheit zu heilen. Der ärztliche Leiter der Klinik teilte mir damals mit, dass aufgrund der genetischen Prädisposition auch unser jüngerer Sohn sowie das ungeborene Kind in meinem Bauch davon betroffen sein werden. Tränenüberströmt saß ich nach diesem Gespräch, von Übelkeit geplagt, auf einer mondänen Treppe in der Klinik, weil ich glaubte, diese mir soeben eröffnete Herausforderung nicht zu meistern. Damals konnte ich nicht ahnen, dass die Hautprobleme der Kinder zu unseren Nebenproblemen zählen werden. Ich lernte, viele Gerichte nach dieser speziellen Diät zuzubereiten, und wendete meine Erkenntnisse nach unserer Rückkehr zu Hause an. Conrads Neurodermitis hatte sich allerdings schon vor der Reise deutlich gebessert, denn von dem Moment an, wo er von uns über die geplante Reise in Kenntnis gesetzt worden war, entspannte sich seine entzündete Haut. Wenige Wochen nach der Reise war er völlig beschwerdefrei und ist es seitdem auch nahezu geblieben, obwohl wir die anstrengende Diät nach Conrads Heilung schrittweise aufgegeben hatten. Die eigentliche Heilung für Conrad bestand wohl eher in der intensiven Zuwendung, die er in dieser Zeit erfahren hatte, denn Neurodermitis ist eine Hauterkrankung, die eng mit dem Zustand der Psyche verknüpft ist. Krankheitsschübe werden meistens durch emotionalen Stress ausgelöst. Die ausgedehnten Wanderungen in den malerischen Bergen, das aufregende Fahren mit der ratternden Zahnradbahn oder auch den spannenden Besuch einer Wasserfestung im Genfer See muss mein Erstgeborener als sorgenfreien Urlaub empfunden haben. Der Arzt, welcher mich damals beraten hatte, sollte leider recht behalten, denn sowohl Benjamin als auch Pascal mussten immer wieder mit Neurodermitis-Schüben kämpfen, diese Hautirritationen wurden aber glücklicherweise nie so schlimm wie seinerzeit die ihres älteren Bruders.
Zu unserem Klinikaufenthalt in der Schweiz drängt sich mir noch eine andere Erinnerung auf. Als ich eines Tages mit Conrad von einem Ausflug zurückkehrte und auf einen kleinen Spielplatz mit hölzernen Bergtieren zusteuerte, entdeckte ich dort eine Mutter mit einem niedlichen, rotblonden Mädchen. Als dieses Mädchen Conrad erblickte, rief es voller Freude: „Look Mummy! What a nice red balloon!“ Es schaute erwartungsfroh zu seiner Mutter auf und zeigte gleichzeitig mit seinem winzig kleinen Fingerchen auf Conrads prall gefüllten Luftballon, der allerdings nicht rot, sondern orange war. Dies versetzte mir einen tiefen Stich ins Herz, weil das kleine Mädchen in Benjamins Alter